Wer Touristenmeilen eher meidet, um das Leben in den Seitenstraßen zu entdecken, hat in Doris Dörrie eine passende Reisebegleitung gefunden. In 47 Anekdoten, jede knapp zwei DIN-A-5-Seiten lang, erzählt die Autorin von ihrer ungestillten Neugierde, hinter die Dinge sehen zu wollen.
Ihre Reisen führen sie unter anderem nach Asien, den Nahen Osten, die USA und Mittelamerika, aber auch direkt vor die Haustür. Sie hinterfragt kulturelle Werte, die Herkunft landestypischer Speisen, Haushaltswaren und traditioneller Feste.
Am liebsten bummelt sie über Flohmärkte und durch Kramläden in aller Welt, um etwas mitzubringen, das sie zu einer Geschichte inspiriert hat. Dabei legt sie ihr Augenmerk oft auf Dinge, die die meisten Menschen bestenfalls als Kitsch bezeichnen würden. Ihr Mann jedenfalls versucht erfolglos, sie davon abzuhalten, immer mehr Ramsch anzuhäufen. Zumal er sein Haus bereits mit einem Stoffschwan mit Schnabelproblem und einer Porzellankaraffe in Hasenform teilen muss. Aber der Autorin geht es nicht um den Wert der Dinge als solche, sondern um den ideellen Wert.
So wurde ihr durch den Anblick eines menschlichen Plastikgehirns, das sie in einem Schaufenster im Iran sah, klar, wie irritiert sie dort war, weil das Land weder stereotypen Vorstellungen noch deren Gegensätzen entsprach.
In einer anderen Anekdote erinnert sie sich daran, wie sie in ihrer Kindheit bunte Glasscherben sammelte und ganz im Moment aufging.
Letzteres lässt mein Zynikerherz normalerweise höherschlagen, weil ich sofort an abgedroschene Phrasen aus Lebensratgebern und von Kalendersprüchen denken muss. Ich habe es gründlich satt, immer im Moment leben und im Alltäglichen das Wunderbare sehen zu müssen, seit ich mich vom Boom einer kommerzialisierten Lebensphilosophie dazu genötigt fühle.
Aber die Autorin missioniert nicht. Ganz nebenbei nimmt sie mich über ihre bildhafte Sprache und mitreißende Erzählweise mit auf eine Reise in meine eigene Jugend. Zurück zu einem Lebensgefühl, in dem die Vorstellung von der Welt eine Sehnsucht nach etwas entfachte, das es gar nicht gibt.
Wäre ich damals nach Bali gereist, wie die Tourist*innen in der Anekdote: Die Reisgöttin, hätte ich sicher eine handgeschnitzte Figur derselben gekauft, fasziniert davon, wie ihre Kraft die Ernte der Reisbauern und Bäuerinnen seit Jahrtausenden beeinflusste. Dass diese Figur erst vor wenigen Tagen fertiggestellt wurde, um sie als Touri-Nippes zu verkaufen, wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen. Und wenn, hätte ich mich wohl betrogen gefühlt. Dabei haben ja beide Seiten etwas davon. Die Einheimischen etwas mehr dringend benötigtes Geld und ich eine gute Geschichte.
Die Autorin kennt die Hintergründe und kauft die Figur trotzdem. Gekonnt spielt sie auf der Klaviatur ihrer komplexen Wahrnehmung, die sie nicht nur dazu anregt, Schönheit zu erkennen, sondern auch, vor dem Abgründigen nicht die Augen zu verschließen. So führen ihre Reisen sie auch über Friedhöfe, zu Totentänzen und an von allen guten Geistern verlassene Orte, die Fragen über Leben und Tod aufwerfen. Und immer wieder nach der Bedeutung von Realität.
Eine facettenreiche Reise ins Leben, die, zumindest mich, darüber sinnieren ließ, wie achtlos ich oft daran vorbeilaufe. Als ich das Buch entdeckte, hätte ich schwören können, es hieße: Die Reisegöttin. Der Verkäuferin bei Hugendubel ging es genauso. Nachdem ich es gelesen habe, frage ich mich, ob das so beabsichtigt war.
Doris Dörrie: Die Reisgöttin und andere Mitbringsel
Diogenes Tapir, März 2024
gebundene Ausgabe, 112 Seiten, 24,00 Euro
Diese Rezension wurde verfasst von Janina Thomas.