Andreas Izquierdo: Fräulein Hedy träumt vom Fliegen

Fräulein Hedy von Pyritz ist mit ihren 88 Jahren eine Respektsperson in dem kleinen Städtchen im Münsterland, wo sie in einer feinen Villa auf einem Hügel lebt. Jeder kennt sie, manche fürchten sie, manche verehren sie und verdanken ihr viel. Sie leitet die Von-Pyritz-Stiftung für begabte junge Menschen, ist preußisch streng zu sich und anderen und verliert eines Nachts den Verstand. Das glaubt zumindest ihre Tochter Hannah oder – was wahrscheinlicher ist – sie nimmt das ungewöhnliche Verhalten ihrer Mutter zum willkommenen Anlass, sie vom Vorsitz der Stiftung zu verdrängen und aufs Altenteil zu schieben. Auch Maria, Hedys Haushälterin und engste Vertraute, macht sich immer öfter Sorgen um Hedy, aber die verfliegen meistens schnell, wenn sie ein leckeres Essen auf den Tisch bringt.

Hannah achtet sehr auf Etikette und darauf, was andere von ihr halten. Dass Hedy sich im Dunkeln auf den Balkon stellt und „TIM-BUK-TUUU“ in die Finsternis ruft, mag ja noch angehen. Aber als sie den Zeitungsjungen mit ihrem alten Mercedes jagt und eine Anzeige aufgibt, in der sie einen Kavalier sucht, der sie zu einem Nacktbadestrand fährt – Entgeltung garantiert – wird es Hannah zu viel. Sie strebt ein Entmündigungsverfahren an und schickt Hedy eine Psychologin ins Haus (diese Begutachtung ist für mich die witzigste Szene im Buch).

Nachdem sich auf die Anzeige zwar viele Männer, aber keine Kavaliere melden, beschließt Hedy, ihren jungen Physiotherapeuten Jan – den sie ausgesucht hat, weil er perfekte Papierflieger falten kann – für den Fahrdienst einzuspannen. Dass er Legastheniker ist und keinen Führerschein hat, interessiert sie nur am Rande, denn sie ist überzeugt, dass man alles lernen kann, wenn man nur will. Sie organisiert für Jan ein straffes Programm als Stipendiat der Von-Pyritz-Stiftung: Schreib- und Leseunterricht bei ihr zu Hause, Theorieunterricht in der Fahrschule und am Wochenende private Fahrstunden auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums mit Alina, Marias Tochter, in die er sich im Handyumdrehen verliebt, es aber vor lauter Schüchternheit nicht schafft, ihr das zu gestehen.

Jan strengt sich an, paukt und ackert, merkt aber bald, dass man ein Lernprogramm, das man gewöhnlich innerhalb von drei Jahren absolviert, nicht in sechs Monaten intus haben kann. Doch wenn Hedy von Pyritz sich etwas vorgenommen hat, wird es auch so durchgezogen. Widerspruch kann sie gar nicht vertragen. Und so zoffen sich die beiden, versöhnen sich wieder und zwischendurch erzählt Hedy Jan von ihrer Kindheit und Jugend in Ostpreußen, von ihren Erlebnissen im Krieg und von einem Geheimnis, das sie bisher noch niemandem anvertraut hat.

Dann taucht auch noch Nick auf, Jans großer, von ihm vergötterter Bruder, und alles gerät durcheinander.

Ich habe dieses Buch verschlungen, konnte es kaum aus der Hand legen. Die vielen sympathischen Figuren, allen voran Jan und Hedy, sind mir ans Herz gewachsen. Am Ende haben sie voneinander gelernt, worauf es im Leben ankommt. Fräulein von Pyritz hat sich von ein paar Konventionen verabschiedet und lässt zu, wieder ein bisschen mehr die alte, aufmüpfige Hedy zu sein, Jan wird eigenständiger, mutiger und erwachsener.

Andreas Izquierdo erzählt mitreißend und spannend, der Roman ist witzig, manchmal traurig oder dramatisch, manchmal einfühlsam und liebevoll.

Ein bisschen gestört haben mich allerdings einige Schreibfehler und zum Schluss habe ich mich gefragt, ob mir das nicht alles zu viel ist: Die verschiedenen Themen im Buch von Legasthenie, Liebe und Emanzipation, über einen Mutter-Tochter-Konflikt, Drogensucht und Kriminalität bis hin zu Kriegsverbrechen, Flucht, Vertreibung und Sterbehilfe, das Schwanken zwischen Komik, Ironie und Tragik, Ernsthaftigkeit und Leichtigkeit. Der Stoff hätte für eine ganze Reihe gereicht.

Das alles hat mich fast ein wenig schwindelig gemacht. Manches ist nur angerissen, manches scheint mir nicht ganz plausibel, bei Einigem fehlt mir die Tiefe. Aber vielleicht ist das Leben einfach so: Es wirbelt uns herum, lässt uns hier einen Blick hineinwerfen, verweigert uns dort den Zutritt, bliebt hier an der Oberfläche, lässt uns dort tief schürfen. Verstehen kann man es sowieso nicht.

Das letzte Wort soll Hedy haben, denn das hat sie sich bei ihrem wilden Ritt durch die Geschichte verdient (und das würde sie sich auch niemals nehmen lassen):

„Wissen Sie, Jan, es ist wie im richtigen Leben. In der Vorstellung ist immer alles viel größer, als es in Wirklichkeit dann ist.“

Andreas Izquierdo: Fräulein Hedy träumt vom Fliegen.
Insel Verlag, Januar 2018.
524 Seiten, Taschenbuch, 14,95 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.

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