Am Anfang stehen die Mütter und die Väter: Horst, der Karriere in der Politik macht, von seinem Sohn Richard bewundert und verehrt; Harry, Arzt und strenggläubiger Vorsteher einer jüdischen Gemeinde, der seinen neugeborenen Sohn Eike beschneidet und so versucht, seinem Gott ein Stück näher zu kommen; Paul, der Affären hat und seine Frau Lea, die ihn mit Bob betrügt bis sie sich letztendlich trennen und vor allem ihren Sohn Jakob in tiefe Verwirrung stürzen; Lutz, das Heimkind, das auch seinen Sohn Anton und dessen Schwester in Moskau in ein Heim gibt, um der Partei besser dienen zu können; Jacques, der belgische Musiker, dessen Bruder im Lager in seinen Armen starb und der seiner Frau Gudrun in den neuen Staat folgt.
Sie alle sind jüdischer Abstammung, leben nach dem 2. Weltkrieg in Ostberlin, sind früher oder später zurückgekehrt oder neu angekommen und setzen Kinder in die Welt. Ihre Leben sind geprägt von Krieg, Verfolgung, Flucht, Angst, Emigration, Haft und Verlust. Sie flüchten sich in Schweigen über diese Zeit. Aufbruch ist angesagt. Ablenkung. Der Blick in eine bessere Zukunft.
Doch alle tragen die Vergangenheit, die Toten, die traumatischen Erlebnisse in sich. Das bekommen auch die Kinder zu spüren. Leas Schwanken zwischen Wut, Kälte und seltener Nähe. Bobs Resignation. Horsts Ehrgeiz und Einsatz für „die Sache“. Wenn die Jugend aufbegehrt führt das oft in eine Sackgasse, Ausbrüche ins Nichts, selten von Dauer. Die Bindung an Väter und Mütter fesselt sie. Anpassung scheint für manche ein Weg. Struktur, etwas, an das man sich halten kann. Sie werden Musiker, Erzieherin, Jurist, Arzt. Gründen selbst Familien.
Doch die Zeit deckt die Wunden auf. Die Eltern werden alt, die Mauer fällt, Lebensentwürfe bröckeln. Ist Israel ein Ausweg? Die Rückkehr zum Glauben der Vorfahren? Die Abkehr von allem, was sicher schien? Die Suche nach neuen Wegen beginnt.
Lakonisch und schnörkellos ist die Sprache in André Herzbergs neuestem Roman. Dennoch oder gerade deshalb weckt sie starke Emotionen, lässt die Leserinnen und Leser tief in die Seelen der Protagonisten blicken. Man blättert und liest sich wie in einem Album durch die Leben von Menschen, die sich selbst suchen, etwas finden, verlieren, vielleicht auch wiederfinden. Die Szenen wirken exemplarisch, wie Bruchstücke, manche wie herausgegriffen aus dem Alltag, manche wie Ausschnitte aus großen, wichtigen Tagen und Stunden. Im Ganzen ergeben sie ein facettenreiches Bild vom Menschsein unter erschwerten Bedingungen.
Das Buch zu lesen erfordert einige Konzentration. Viele Personen und Namen, oft nur angedeutete Orte, Zeiten und Zusammenhänge, Sprünge in der Handlung, wenig Orientierungspunkte. Doch das Lesen lohnt sich und diese Erzählweise passt haargenau zum Inhalt, spiegelt die Unsicherheit, die Suche, den fehlenden Halt. Universelle Themen in unserer Zeit.
Der Autor und Musiker André Herzberg ist selbst in Ostberlin geboren und jüdischer Herkunft. Wie viel von seiner persönlichen Geschichte in diesen Roman eingeflossen ist, kann ich nicht beurteilen, aber ich habe gespürt, dass er weiß, wovon er schreibt. Ich bin weder Jüdin, noch Ostdeutsche, trotzdem hat mich „Was aus uns geworden ist“ in seinen Bann gezogen und berührt.
Klare Empfehlung für alle, die Bücher mit Anspruch mögen, die Geschichte und bewegende Geschichten unkonventionell erzählen.
André Herzberg: Was aus uns geworden ist.
Ullstein, November 2018.
240 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.