Unter den zahllosen Veröffentlichungen zur Zeitgeschichte findet sich allgemein viel Redundantes. Viele Themen wurden schon tausendfach beackert, und so finden sich oftmals nur kleine Ergänzungen, Mosaiksteinchen, die zwar interessant sind, den Blick auf die Vergangenheit jedoch kaum erweitern oder gar verändern. Im Falle des „Blockadebuchs Leningrad“ ist das anders.
Für die Deutschen ragt unter den großen und entscheidenden Schlachten des Zweiten Weltkriegs ohne Frage die um Stalingrad heraus, markiert sie doch die entscheidende Wende des Krieges, steht gleichsam für den Wahnsinn des Krieges und die deutsche Niederlage. Schon kurz nach der Schlacht wurden die Stalingradkämpfer mythologisch aufgeladen – die eingeschlossene 6. Armee, die schließlich in Gefangenschaft ging und von der so wenige zurück in die Heimat kehrten.
In der russischen Geschichte haben jedoch die Ereignisse rund um die Stadt Leningrad, früher und heute wieder St. Petersburg, eine wesentlich höhere Bedeutung. 872 Tage – das sollte man jetzt nicht zu schnell lesen – war die Stadt von deutschen Truppen eingeschlossen und sollte im wahrsten Wortsinne ausgehungert werden. 872 Tage, die für die eingeschlossenen Menschen eine unsägliche Tortur bedeuteten. Von 1941 bis 1944 dauerte der Kampf um Leningrad, ein Erhalt der Bevölkerung war von der deutschen Heeresführung nicht beabsichtigt. Was dort passierte, lässt sich mit Zahlen und militärischen Beschreibungen nicht erfassen.
Die Autoren haben über mehrere Jahre zahlreiche Einzelschicksale zusammengetragen, mit Überlebenden gesprochen und deren Erlebnisse protokolliert. Die Arbeit der Autoren – das schildern uns Vorwort und Einleitung – begann in den siebziger Jahren, 1984 dann die erste Veröffentlichung des Buches: erst in der Sowjetunion, dann in der DDR; beide Ausgaben waren gekürzt, zensiert. Erst jetzt erscheint eine ungekürzte und vollständige Version, die uns ermöglicht, das Werk neu betrachten und würdigen zu können.
Das 700 Seiten starke Buch hat zwei Teile: Der erste Teil ist nach Themen geordnet und strukturiert damit die zahllosen Gespräche, die die Verfasser führten, der zweite Teil präsentiert uns drei außerordentliche Quellen – Tagebücher, die während der Hungerblockade geführt wurden. Die Erlebnisse werden uns Lesern direkt vor Augen geführt. Wir erleben, was Hunger mit den Menschen macht – wie er das Schlimmste, aber auch das Wertvollste in ihnen hervorbrachte. Die einzelnen Erlebnisse sind manchmal schwer zu ertragen – die Lektüre ist teilweise, vor allem emotional, ein hartes Stück Arbeit. Und so möchte ich an dieser Stelle auch nicht in voyeuristischer Manier Auszüge der schrecklichsten Erlebnisse präsentieren, schließlich ist ja auch das, was sich an einem besonders festbeißt, was man als unerträglich, ja unzumutbar empfindet von Leser zu Leser unterschiedlich.
In Russland ist die Erinnerung an die Vergangenheit, vor allem an den „großen vaterländischen Krieg“ gegen Hitler-Deutschland nach wie vor ein heiß umkämpftes Feld. Alle, die etwas anderes aufzeigen wollen, als den heroischen Kampf von heldenhaften Menschen, die das Böse überwanden, treffen auf energischen Widerstand. Adamowitsch und Granin waren an Heldengeschichten wenig interessiert. Ihnen ging es vielmehr um die Leidensgeschichte der Menschen von Leningrad. Dieses Buch gibt ihnen ihre Geschichte zurück.
Das Blockadebuch lässt uns nicht nur die Vergangenheit verstehen. Es erzählt ebenso von der Gegenwart. Denn schließlich finden sich auch heute in unserer Zeit Parallelen, die sich aufdrängen: Übertragen wir nur einmal die Bilder aus der Vergangenheit in die belagerte, umkämpfte und zerbombte Stadt Aleppo – vielleicht begreifen wir dann viel mehr, was da vor sich geht, warum die Menschen verzweifelt, so sie denn können, ihre Heimat verlassen.
Deshalb ist es ein wichtiges Buch. Und es ist gerade für uns Deutsche, die diese Episode kaum kennen, umso wichtiger. Es gibt nur wenige Bücher, die den Leser verändern. Das Blockadebuch tut dies. Kann man mehr sagen?
Ales Adamowitsch & Daniil Granin: Blockadebuch: Leningrad 1941 – 1944.
Aufbau Verlag, August 2018.
703 Seiten, Gebundene Ausgabe, 36,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Corinna Griesbach.