Polly Clark: Tiger

Seit Jahren beobachtet und dokumentiert Frieda im Forschungsinstitut das Verhalten von Bonobos. Die friedfertigen Primaten lenken sie wunderbar von sich selbst ab. Seit sie das Opfer eines Überfalls wurde, ist sie versehrt, körperlich und psychisch. Mit Morphin aus der Institutsapotheke kann Frieda zur Ruhe kommen, wenn Alkohol dafür nicht mehr ausreicht. Sie wird ertappt und gefeuert. Mit viel Glück bekommt sie eine neue Stelle in einem etwas sonderbaren Privatzoo. Dort soll sie sich eigentlich um die Bonobos kümmern, doch als eine ausgemergelte einäugige Sibirische Tigerin in dem Zoo landet, wird Frieda zu deren Betreuerin ernannt. Es entwickelt sich eine ganz besondere Beziehung.

Tomas‘ Vater ist entschlossen, in Sibirien ein Tigerreservat aufzubauen. Er hat ein großes Gebiet gepachtet, vermisst und dokumentiert jeden Abdruck einer Tigerpfote, stellt Kamerafallen auf, kämpft um Fördergelder. Nachdem ein hochrangiger Politiker seinen Besuch ankündigt hat, schickt er Tomas in die Taiga, um frisches Bildmaterial von der Gräfin, der größten Tigerin in der Gegend, und von ihren beiden Jungen zu beschaffen. Es ist der strengste Winter seit Menschengedenken. Tomas macht sich auf den Weg. Er stößt auf die Fährte der Gräfin und folgt ihr. Als er auf die Tigerin trifft, wird daraus die wichtigste Begegnung seines Lebens.

Edit gehört zu den Udehe, die ein Gebiet am Amurfluss und seinen Nebenflüssen bevölkern. Die Sprache, die Gesänge, die Sagen der Udehe werden durch die Russen immer mehr verdrängt. Was dennoch geblieben ist: die mythische Verehrung des Tigers. Edit wird in eine unglückliche Ehe mit einem Russen getrieben, der an der Ermordung eines Tigers beteiligt war. Sie flieht mit ihrer Tochter in die Weiten der Taiga, lebt vor der Welt verborgen im Einklang mit der Natur und hütet sich vor den Tigern.

Diese drei zunächst nicht miteinander verbundenen Teile des Romans führt die Autorin in Teil vier recht passabel zusammen. Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass die möglichen Verbindungslinien vor allem zwischen Teil eins und zwei früher zu erahnen gewesen wären.

Alle menschlichen Protagonisten haben mit existenziellen Herausforderungen zu kämpfen, die sie mehr oder weniger gut überwinden. Der Tiger hingegen ist, selbst in Gefangenschaft. Er wird aus der Perspektive der Forscherin, des Jägers, der Ureinwohnerin gezeigt – und aus seiner eigenen. In seinem Territorium nimmt er jede Luftbewegung wahr, jeden Ast, der unter der Schneelast bricht, jeden Hinweis auf ein Beutetier. Sein gestreiftes Fell lässt ihn zwischen den Baumstämmen unsichtbar werden. Er wartet geduldig und er vergibt nie.

Polly Clark gelingen großartige Naturbeschreibungen, die mich damit aussöhnen, dass Teil vier im Vergleich zum Rest deutlich abfällt. Fragen wie jene, ob Zuchterfolge bedrohter Arten die Zootierhaltung rechtfertigen, ob artgerechte Haltung in Gefangenschaft überhaupt möglich ist, werden nicht offen gestellt, schwingen aber jederzeit im Hintergrund mit. Nein, bin ich versucht zu antworten, wenn ich mit der Gräfin durch die Weiten der Taiga pirsche. Aber es gibt wohl nur noch gut fünfhundert Sibirische Tiger in freier Wildbahn.

Klare Leseempfehlung für alle, die sich für die Natur und eine ungewöhnliche Geschichte begeistern können.

Polly Clark: Tiger.
Eisele, November 2020.
432 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Ines Niederschuh.

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