Paolo Cognetti: Sofia trägt immer schwarz

Als Sofia während ihres Selbstmordversuchs auf die Wirkung der Tabletten wartet, kommt ihr der Gedanke, dass sie zur Schauspielerei berufen sei. „Das wäre eine wunderbare Möglichkeit gewesen, sich selbst zu entkommen.“ Sofia überlebt, zieht weiter an neue Orte, zu neuen Menschen, Beziehungen, Jobs – stets auf der Flucht vor sich selbst. Station macht sie in Mailand, Rom, New York. Letztendlich wird Sofia zum Sinnbild einer ganzen Generation von Ruhelosen, überwältigt von der Komplexität des Daseins.

Weil sie keine Lust auf ihre Erstkommunion hat, rasiert sich Sofia die Haare ab. Als Kind spielt sie lieber mit Jungs, verliert sich in Piratengeschichten. Sie lehnt Essen ab, ebenso wie die Notwendigkeit, sich festzulegen. Sofia lässt sich vom Leben treiben. Als Punk, Schauspielerin, Geliebte. Vor der Kamera glänzt Sofia mit Präsenz, kaum ist diese abgeschaltet, verschwindet sie nahezu unsichtbar. Sofia liebt die Farbe Schwarz, weigert sich aber in Filmen zu sterben. Begründung: Als Lebender könne man nicht wissen, wie es ist zu sterben, und wer es wisse, sei bereits tot.

Dabei will Sofia Muratore vor allem eins: nicht so werden wie ihre Eltern. Aufgewachsen in einem Mailänder Vorort, lauern hinter der Idylle wahre Abgründe. Ihr Vater ist ein Workaholic, ihre Mutter ist manisch-depressiv und kommt oft den ganzen Tag nicht aus dem Bett. Beide verharren in ihrem Unglück. Sofia wählt eine andere Strategie: Wenn etwas nicht gut läuft, bricht sie einfach alle Brücken hinter sich ab und zieht weiter.

Der Roman begleitet Sofia von ihrer Geburt bis zu ihrem 28. Lebensjahr. Autor Paolo Cognetti wechselt in jedem Kapitel die Perspektive auf seine Protagonistin. Es sind Menschen, die Sofia begegnen und sie aus ihren Augen beschreiben. Mal ist es die Insassin einer Jugendpsychiatrie, mal die politisch radikalisierte Tante, mal der Mitbewohner eines Regisseurs, mit dem Sofia eine Affäre eingeht. Auch die Hintergrundgeschichten ihrer Eltern werden beleuchtet. Nach und nach fügen sich die Puzzleteilchen von Sofias Chronologie zusammen. Dennoch bleibt Sofia ein Mysterium, da wir keine direkte Charakterisierung enthalten, sondern sie durch die jeweiligen Filter ihrer Mitmenschen sehen. Stattdessen erfahren wir, welche Spuren sie in deren Leben hinterlassen hat. So inspiriert sie zum Beispiel einen Mitbewohner zu einem lange geplanten, aber nie angegangenen Roman.

Der italienische Autor hat ein feines Gespür für Szenen. Gleichzeitig entführt er uns auf eine Zeitreise zwischen Punk, Gewerkschaftsstreiks, Emanzipations- und Jugendbewegungen.

Fazit: Die Literatur bedarf mehr starker Frauenfiguren wie Sofia, die anziehen und abstoßen, die faszinieren und zur Reflexion anregen. Schwarz ist nicht umsonst die Abwesenheit von Farbe, da Schwarz keine Lichtwellen reflektiert. So dient Sofia unbewusst als Projektionsfläche, als schwarze Leinwand. Oder wie auf Seite 214 beschrieben wird „… ein Mittelsmann… einer von denen, die einem Türen öffnen und wieder verschwinden.“ Sofia ist eine fluide, kaum greifbare „Mittelsfrau“, die selbst im Spekulativen bleibt, aber lange im Leben ihrer Mitmenschen – und Leser – nachhallt.

Paolo Cognetti: Sofia trägt immer schwarz.
Penguin, September 2018.
240 Seiten, Gebundene Ausgabe, 18,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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