Nadia Bozak: Der Junge

Honey ist auf dem Weg zu ihrer Mutter Marianne, die seit Jahren in der Grenzregion in der Wüste lebt. Der Besuch soll eine Überraschung werden. Selbst Honeys Mann Keith, der dienstlich unterwegs ist, weiß nichts davon. Marianne ist eine typische „Aussteigerin“. Von den Einheimischen wird sie auch „alte Hippie-Hexe“ genannt. Sie hat sich dorthin zurückgezogen, um zu malen und – was den Bewohnern ein großer Dorn im Auge ist – sie stellt für die durchziehenden Menschen aus dem Süden, die die Grenze illegal überwinden wollen, Essen und Getränke hinter ihren Trailer.

Nachdem Honeys Wagen eine Panne hat, muss sie sich die letzten Meilen bis zu Mariannes Zuhause erst mit dem Greyhoundbus und dann zu Fuß durch das öde Niemandsland schlagen. Die Hitze macht ihr zu schaffen. Sie ist Besseres gewöhnt: das Leben in der Stadt, morgens das Schwimmen im Pool, ihre geregelte Arbeit als Lehrerin. An einer Tankstelle geben ihr die Söhne des Besitzers den guten Rat, wieder umzukehren und zurück nach Hause zu fahren: „Is’ nich der richtige Ort für ’ne Lady“, sagt Luke. „Vor allem nich für eine, die genauso aussieht wie ihre Mutter. Das bringt die Leute durcheinander.“ (Seite 34)

Sie werden mit ihrer Warnung Recht behalten.

Als Honey endlich am Trailer ankommt, stellt sie fest: Ihre Mutter ist verschwunden. Auch deren Hund Baez ist nirgends zu finden. Honey macht sich mit Mariannes altem Auto auf die Suche und gerät in Schwierigkeiten. Da taucht Chávez auf, „der Junge“ nach dem dieser Roman benannt ist. Er behauptet, zu wissen, wo Marianne sich aufhält, und bietet Honey an, sie für 5.000 Dollar dorthin zu führen.

Chávez stammt aus dem Süden. Er verdient sein Geld vor allem damit, andere Jungen über die Grenze zu schleusen. Sein Ziel ist, seine Mutter zu finden, die „in den Norden“ gegangen ist und sich nicht mehr gemeldet hat. So geht es fast allen in der Gegend, aus der er kommt. Zuerst sind die Väter gegangen, dann die Mütter, dann haben sich die Söhne aufgemacht, um nach ihnen zu suchen. Die Jungs sind 10 oder 12 Jahre alt, manchmal noch jünger, manchmal älter. Mit 15 gehört man schon fast zu den Erwachsenen. Honey und Chávez machen sich auf den Weg durch die heiße, schroffe und fast unbezwingbare Wildnis.

Nadia Bozaks Roman „Der Junge“ geht an die Nieren. Wenn sie erzählt, wie die Jungen, diese Kinder „aus dem Süden“ versuchen, einfach zu überleben, dann muss man mehr als einmal schlucken. Sie wirken wie desillusionierte Erwachsene, da ist kaum mehr etwas Kindliches in ihnen. Chávez sticht aus dieser Masse heraus, weil er ein „höheres Ziel“ hat. Er will etwas aus sich machen, lernt Englisch und verfolgt einen Plan. Ich habe ihm permanent die Daumen gedrückt, dass er es schafft.

Die Autorin erzählt die Geschichte aus drei Perspektiven. Die Begebenheiten – die sich zu verschiedenen Zeiten in einem Rahmen von ungefähr zwei Jahren abspielen – zu verknüpfen und in die richtige Reihenfolge zu bringen, erfordert etwas Denkarbeit. Aber es macht den Roman auch extrem spannend. Neben Chávez und Honey bekommt auch Mariannes Hündin Baez eine eigene Stimme. Sie hat ihren ganz eigenen „Hunde-Blickwinkel“, der auch den Leserinnen und Lesern neue Perspektiven eröffnet. Beispielsweise gibt sie den Menschen um sich herum Namen, die sich aus ihren Beobachtungen und ihren sinnlichen Wahrnehmungen ergeben – und die stimmen nicht mit den „echten“ Namen überein, so dass man auch hier beim Lesen etwas kombinieren muss und manchmal zunächst nur vermuten kann, wer gemeint ist.

Die Charaktere von Chávez und Honey sind vielschichtig und zerrissen – wie Menschen, vor allem in Extremsituationen, eben sind. Seine Erlebnisse haben Chávez hart gemacht, aber in ihm schlummert immer noch der kleine Junge, der sich nach Liebe und Zugehörigkeit sehnt. Honey kämpft sich nicht nur äußerlich durch die Wüste, sondern muss sich auch mit ihrem Innenleben, mit ihren Werten beschäftigen. Und sogar Baez schwankt in ihrem Wesen zwischen einem „zivilisierten“ Haustier und dem wilden Coyoten, der in ihr steckt.

Auch wenn nirgends im Roman die Begriffe „Amerika“ oder „Mexiko“ auftauchen, denkt man spätestens beim Auftauchen der Mauer, die gebaut wird, an genau diese Grenze. Dennoch könnte sich die Geschichte überall abspielen, wo der „Süden“ auf den „Norden“ trifft. Das Elend der Flüchtenden wird greifbar, aber auch die Ängste der einheimischen Bevölkerung werden – wenigstens teilweise – nachvollziehbar. Manchen geht es nicht viel besser als den Migranten.

„Der Junge“ könnte auch „Die Jungen“ heißen, weil Chávez für viele von ihnen stehen kann, weil einige von ihnen diesen Roman prägen. Dass manche ihre Hoffnung nicht verlieren, ist bewundernswert. Ich sehe sie durch diesen Roman mit anderen Augen.

Nadia Bozak ist ein bewegender, spannender, aber auch verstörender Roman gelungen, der geradezu dazu auffordert, für sich Stellung zu den Themen und Problemen zu beziehen, die darin aufgeworfen werden – und vielleicht auch dazu, seine Einstellung und sein Verhalten zu überprüfen.

Ich kann „Der Junge“ allen wärmstens empfehlen, die bereit sind, sich darauf einzulassen, und die gleichzeitig einen eindrucksvollen, großartig geschriebenen Roman lesen wollen.

Gregor Runge hat diesen Roman übersetzt.

Nadia Bozak: Der Junge.
Karl Rauch Verlag, April 2021.
352 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.

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