Im Jahr 2038 arbeitet Jacinda Greenwood, genannt Jake, als Naturführerin auf einer Insel vor der kanadischen Küste. Diese Insel ist einer der letzten Orte der Erde, an dem noch Primärwald zu finden ist und wo man noch frei atmen kann. Spätestens seit dem Großen Welken ist die Welt sehr unwirtlich geworden. Der Klimawandel führte dazu, dass sich die Klimazonen schneller verändern, als die Bäume sich anpassen können. Dies hat ihre Fähigkeit zur Abwehr von Schädlingen geschwächt und die meisten Bäume zum Tode verurteilt. „Während weltweit immer mehr Primärwälder absterben, trocknet der Boden aus […] und es entstehen tödliche Wolken aus Staub so fein wie Mehl, die das Land ersticken. […] Landwirtschaftsbetriebe machen Konkurs, der Aktienmarkt bricht ein, die Arbeitslosenzahlen steigen, unkontrollierte Waldbrände, Ausschreitungen und Plünderungen sind an der Tagesordnung.“ (Zitat: Kapitel „Das Große Welken“)
Ein interessantes Szenario, es ist aber nicht das Hauptthema des Romans, sondern lediglich der Rahmen, in den die Geschichte eingebettet ist. Am Anfang des Buches ist der Querschnitt eines Baumstammes abgebildet. Anhand der Jahresringe eines Baumes kann man sein Alter bestimmen, sie verraten aber auch etwas darüber, unter welchen Umweltbedingungen der Baum herangewachsen ist. Kräftiges Wachstum erzeugt breite Ringe, schmale Ringe verweisen auf schlechte, vielleicht zu trockene Jahre.
Der äußere Jahresring auf der Abbildung ist mit dem Jahr 2038 bezeichnet, die älteste Datierung im Inneren lautet 1908. Die Geschichte über die Familie Greenwood beginnt 2038, springt in Etappen zurück bis ins Jahr 1908 und bewegt sich dann wieder in die Zukunft. Nur, dass die Greenwoods genau genommen gar keine richtige Familie sind. Sie wurden durch teils dramatische Ereignisse zusammengebracht und wieder getrennt, jedes Familienmitglied hat eigene breite und viele schmale Jahresringe. Gemeinsam haben sie die Liebe zu Bäumen und zum Holz, die sich durch alle Episoden zieht. Und, wie Jake Greenwood erkennt, ist das, was man gemeinsam hat, das Wichtigste. So, wie in einem Wald alles miteinander zusammenhängt, ist auch die Familiengeschichte verflochten und all die Stränge mit ihren Knoten und Wirrungen haben Jake auf diese Insel gebracht und zu dem Menschen gemacht, der sie heute ist. Um etwas gemeinsam zu haben und um trotz widrigster Umstände irgendwie weiterzumachen, muss man nicht blutsverwandt sein.
Die Handlung erscheint mir stellenweise unglaubwürdig, das ein wenig zu süß geratene offene Ende hat mich enttäuscht, das düstere Zukunftsszenario verschenkt viel Potenzial – dennoch fühlte ich mich von dem Buch sehr gut unterhalten. Neben schönen Naturbildern enthält der Roman viel Wissenswertes über Bäume, welche ich beim nächsten Waldspaziergang um einiges aufmerksamer und ehrfürchtiger betrachtet habe als sonst.
Ein Buch, das sich wunderbar wegschmökern lässt und dennoch einen längeren Nachhall erzeugt.
Michael Christie: Das Flüstern der Bäume.
Penguin Verlag, Oktober 2020.
560 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Ines Niederschuh.