Mitte der 1970er Jahre in Buenos Aires: Nach 15 Jahren im Exil kehrt Juan Péron, ehemaliger Präsident und Hoffnungsträger vieler Argentinier, zurück und wird erneut zum Staatsoberhaupt gewählt. Doch die Freude währt nicht lange: Péron kann viele Erwartungen, die in ihn gesetzt wurden nicht erfüllen, es herrscht Uneinigkeit über die Ausrichtung der Politik, das Land gerät mehr und mehr in einen Strudel von Chaos und Gewalt. Als Péron nur wenige Monate nach seiner Wiederwahl stirbt, spitzt sich die Krise weiter zu, bis die von seiner Frau Isabel Martínez de Perón geführte Regierung 1976 durch einen Militärputsch gestürzt wird.
In dieser Zeit siedelt María Cecilia Barbetta ihren neuen Roman „Nachtleuchten“ an. Er erzählt von „kleinen“ (und „größeren“) Leuten im Stadtteil Ballester, die versuchen, sich mit den Verhältnissen zu arrangieren, die aber auch Einfluss nehmen wollen auf die Entwicklung ihrer Umgebung und des ganzen Landes. Im Mikrokosmos Ballester leben Einwanderer aus vieler Herren Länder. Sie sind hier hergekommen, um für sich ein besseres Leben zu schaffen, manche haben das erreicht, manche haben noch ein ganzes Stück des Weges vor sich. Doch in diesen unruhigen Zeiten suchen alle etwas, an dem sie sich orientieren und festhalten können, etwas, das ihnen hilft, mit den Schrecken und Wirrnissen umzugehen und zuversichtlich in die Zukunft zu blicken.
Da ist zum Beispiel Teresa, die altkluge Tochter aus „gutbürgerlichem“ Haus – der Vater ist der Arzt im Viertel – und Vorzeigeschülerin des von katholischen Schwestern geführten Instituto Santa Ana. Sie beschließt, aufgerüttelt von der neuen, jungen Lehrerin Schwester María und den Ergebnissen des 2. Vatikanischen Konzils, dass sie etwas tun muss, um die Kirche zu den Menschen zu bringen. Um sich selbst und andere zu retten erfindet sie die „Wandermadonna“. Die fluoreszierende Plastikmadonna, die sie in die Häuser der Nachbarschaft trägt, soll dort für jeweils ein paar Tage Obdach finden und die Bewohner beschützen.
Schwester María hingegen engagiert sich – inspiriert von der Theologie der Befreiung – zusammen mit Padre Gustavo in einem Armenviertel und verschwindet im Laufe des Buches spurlos.
Teresas Großvater führt die Autowerkstatt „Autopia“, in der nicht nur an Autos gebastelt wird, sondern auch an Texten, denn einer der Mitarbeiter ist der „Autor-Mechaniker“ Álvaro Fantini, der nebenbei den Posten des Chefredakteurs des „ballester lokalanzeigers“ übernommen hat. Nach und nach spannt Álvaro die halbe Nachbarschaft ein, so dass in der Werkstatt regelmäßig „Redaktionssitzungen“ stattfinden. Dabei ist das Blatt durchaus kritisch und ein wenig revolutionär: Die durchgängige Kleinschreibung irritiert manchen „guten“ Bürger und auch die beiden Polizisten Aguirre und Carrizo, die in Ballester patrouillieren und sich gerne gegenseitig die Welt erklären (wobei Carrizo hier eindeutig die Oberhand behält). Dabei sind die beiden nicht gefeit vor den Verführungen der Macht, die von der Politik und den geheimen Aktivitäten der Polizei ausgehen.
Regelmäßiger Gast im „Autopia“ ist auch der exaltierte Friseur Celio, der nach dem Tod seiner geliebten Mutter Laura Ansprache sucht und sich in den jungen Mechaniker Saberio Saturnino verguckt hat. In seiner Verzweiflung ist Celio ein leichtes „Opfer“ der immer mehr werdenden Spiritisten, die ihm versprechen, Kontakt zu seiner Mutter herzustellen und ihn als Medium auszubilden. In Verdacht, mit übersinnlichen Erscheinungen in Kontakt zu stehen, gerät auch Ofelia Farías, die das verwilderte Grundstück und das Haus ihres Großonkels übernimmt und den dort herumstreunenden Katzen die Namen altägyptischer Berühmtheiten gibt.
Und das ist noch längst nicht alles an Personal, das dieser Roman zu bieten hat.
Ballester strotzt vor Individualisten, die für sich einen Weg suchen, mit der unübersichtlichen, angespannten politischen und gesellschaftlichen Situation zurecht zu kommen: Teresas Cousins und ihr Freund Mariano, der im zarten Alter von 13 Jahren schon mehrere Fernkurs-Diplome als Detektiv, Kosmonaut, Fotograf und Sternekoch sein eigen nennt, der anarchistische Bäcker, der in seiner Bäckerei Ordnungshüter, Sahnebomben und Kanonen mit Milchkaramellfüllung verkauft, die reiche Familie Viamonte Rey, die trotz ihres Geldes nicht glücklich ist und noch viele mehr bevölkern das Buch und machen es so zu einem herausragenden Stück Literatur in bester südamerikanischer Tradition.
Mit überbordender Fantasie, poetisch und sinnlich lässt María Cecilia Barbetta das Viertel Ballester, in dem sie aufgewachsen ist, mit seinen Bewohnerinnen und Bewohnern lebendig werden. Dabei spart sie auch die unangenehmen Seiten dieser Zeit nicht aus: Denunziantentum, Terror, Krawalle und Polizeiwillkür werden nicht unter den Teppich gekehrt. Sie spielt mit der Sprache und mit Gewohnheiten, findet Bilder, die mich staunen lassen und setzt gekonnt auch grafische Mittel ein.
Schon vor dem Erscheinen wurde ein Auszug des Manuskriptes von „Nachtleuchten“ mit dem Alfred-Döblin-Preis ausgezeichnet. Ein Preis, den dieser außergewöhnliche Roman ohne Zweifel verdient hat. Wer lateinamerikanische Literatur mag oder ein herausragendes Beispiel dafür kennenlernen möchte, sollte dieses Buch unbedingt lesen.
María Cecilia Barbetta: Nachtleuchten.
Fischer, August 2018.
528 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.
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