Frank und Susan ziehen nach Freiburg. Warum nach Freiburg? Darauf hat nur Frank eine Antwort: Das treibende Wort für ihn ist „Hochschwarzwald“. Der Umzug ergibt für ihn „Radsportsinn“. Weg von den mickrigen Hügeln in Norddeutschland, vom Training auf den Rampen von Tiefgaragen. Richtige Anstiege braucht er jetzt, da es im Beruf bergab geht und er sich nicht mehr orientieren kann. Herausfordernde Strecken, Gleichgesinnte. Susan fährt nicht mehr Rad. Sie hinterfragt: den Umzug, die berufliche Situation, den Sinn, sich Berge hoch zu quälen, Kilometer zu fressen, nicht auszuscheren. Dennoch weist sie Frank auf eine Anzeige hin: „Rennradtreff. Christi Himmelfahrt. Donnerstag um 10 Uhr. Der Radverein lädt ein. Auch Nichtmitglieder sind willkommen.“
Frank fährt los, unsicher, verhalten, folgt einem anderen Radfahrer, landet am Treffpunkt Heidegger-Denkmal und wird in die „mittlere Gruppe“ der Ausfahrt einsortiert. 27er-Schnitt, rund 100 Kilometer. Das kann er schaffen, das passt, denkt er beim eher gemächlichen Einrollen. Ruhe und Rhythmus kehren ein, bei gleichbleibendem Tempo unterhält man sich über Ritzel, Sattelstützen, Tretlager, Fahrradmarken oder hängt seinen Gedanken nach. Frank wird ein Teil des Feldes, das zusammenspielt wie ein Schwarm, Handzeichen fliegen von Fahrer zu Fahrer, wenn ein Hindernis ansteht, abwechselnd stehen sie im Wind.
Ein gewisser Landauer wird die Gruppe führen, stößt allerdings erst später dazu. Er hat vorher noch eine andere Tour und wäre bei diesem Anfangstempo deplatziert, unterfordert, gelangweilt. Die Lücke fährt er locker zu. Oder darf er sich offiziell gar nicht zeigen, weil ihm die Lizenz entzogen wurde? Gerüchte machen die Runde.
Landauer, der Langstreckenfahrer, nach dem sogar ein Anstieg in der Nähe benannt ist, der Mann, der niemals aufgibt, der sich auch von Stürzen nicht aufhalten lässt, der alles schafft und andere zu außergewöhnlichen Leistungen antreibt, aber niemanden aus seiner Gruppe hängen lässt. Ein Gott, ein Guru, ein Vorbild, ein Verrückter, der Herr über Tempoverschärfungen und Fahrmanöver.
Dann der erste Härtetest: Die Geschwindigkeit steigt, der erste Berg wird in Angriff genommen, gnadenlos wird das Tempo gehalten, feuert Landauer jeden Einzelnen an, duldet er kein Langsamerwerden, kein Aufgeben. Frank ist am Limit, steht kurz vor dem Kollaps. Er denkt daran, wie es wäre, einen Pedaltritt auszulassen, sich aufrecht zu setzen, zurückzufallen. Was ihn bei der Stange hält ist, dass er nicht der Erste sein will, nicht der Einzige, der sich hängen lässt. Er hält durch, kommt oben an. Doch das war erst der Anfang.
Landauer peitscht die Gruppe weiter voran, nach Frankreich, über Vogesenberge, nimmt jeden Anstieg mit. 100 Kilometer sind längst überschritten, Geschwindigkeitsvorgaben sind für ihn kein Kriterium. Er fährt und führt nach seinen eigenen Regeln. Landauers Gruppe sei mittlerweile weit mehr als nur eine gewöhnliche Gruppe, vielmehr schon eine eigene Welt, eine unverwechselbare Gemeinschaft, eine Rennradgemeinschaft, erzählt ein Mitfahrer. „Zu allem fähig und zu allem bereit.“
Frank fährt mit, blickt zurück, plant seine Zukunft, stellt irgendwann das Denken ein, schwankt zwischen Euphorie, Erschöpfung und völliger Leere.
Der mehrfach ausgezeichnete Autor und passionierte Radsportler Joachim Zelter hat mit diesem Roman nicht nur ein Buch über Radsport geschrieben, über den Kick, sich ganz und gar zu verausgaben oder seine Grenzen auszuloten und zu überschreiten, sondern auch über den Anpassungsdruck, über das Mithalten-Müssen und das Nicht-Versagen-Dürfen in unserer modernen Gesellschaft. Wer gestattet sich schon von „seiner Gruppe“ abweichende Meinungen oder Verhaltensweisen? Die Folgen zu (er-)tragen erfordert große Standfestigkeit und Selbstsicherheit. Ganz schnell ist man „unten durch“. Einfacher ist es meist, im Strom mit zu schwimmen.
Die Rhythmuswechsel sind gut gesetzt. Ruhige Passagen wechseln mit Stakkato-Abschnitten, fließende Gedanken mit körperlicher Kraftanstrengung. Daraus ergibt sich ein Sog, der mitreißt. Das Feld hat mich beim Lesen in sich aufgenommen, hat mir den zeitweise den Atem geraubt und mir wichtige Denkanstöße gegeben. Nicht-Radsportler sollten sich nicht vom „Radfahrer-Slang“ abschrecken lassen, der ab und zu auftaucht, man muss nicht alle Fachwörter verstehen, damit die Geschichte wirkt.
Es lohnt sich auf jeden Fall, „Im Feld“ zu lesen, egal ob man sich für (Rad-)Sport oder für die Mechanismen unserer modernen Gesellschaft interessiert.
Joachim Zelter: Im Feld: Roman einer Obsession.
Klöpfer & Meyer, Februar 2018.
156 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.
Hallo und vielen Dank für den Ihren Post! Ausgezeichnet
Tipp.
Vielen Dank, Herr Klein, ich freue mich, dass Sie über meine Rezension ein Buch entdeckt haben, das Ihnen gefällt.
Viele Grüße
Beate Fischer