„Warum verwenden Sie für Ihre Werke die Abdrücke von Menschen?“, fragt die Autorin H. den Bildhauer Jang Unhyong bei einem zufälligen Zusammentreffen. Die Antwort darauf bleibt er ihr schuldig. Einige Monate später erfährt sie von Unhyongs Schwester, dass er spurlos verschwunden ist. Hinterlassen hat er nur eine Reihe seiner berühmten Gipsabdrücke und ein Manuskript mit dem Namen „Ihre kalten Hände“, das ihr die Schwester überlässt und das mit folgenden Worten beginnt: „Warum?“, fragte mich die Schriftstellerin H.
Sie fängt an zu lesen: über Unhyongs Leben, seine Gedanken und Gefühle, ungeschminkt aufgezeichnet von ihm selbst, ausgehend von der Frage: „Warum? Warum ist die Mitte meines Lebens so absolut hohl?“ Doch ihm ist klar, dass er keine Antwort auf diese Frage geben wird.
Gemeinsam mit der Schriftstellerin H. tauchen die Leserinnen und Leser in Unhyongs Geschichte ein. Da ist zunächst die Familie: der Onkel, der im Krieg ein paar Finger verloren hatte, dies aber auf unerklärliche Weise zu verbergen wusste; die ungeduldige, unleidliche Mutter, der alles, was mit ihren Kindern zu tun hatte zu viel war, die aber für Gäste stets eine lächelnde Maske auf ihr Gesicht zauberte; der Vater, in den Augen der meisten ein herzensguter Mensch, doch vom Onkel als Heuchler beschimpft.
Unhyong fühlt sich als Fremder in der Familie, umgeben von undurchsichtigen, maskierten Gestalten. Auch in der Schule gehört er nicht dazu, wird zum Außenseiter, von den meisten links liegen gelassen. Um mit der Situation klarzukommen, lernt er schon als Kind, alle Erwartungen zu erfüllen und niemals seine wahren Gefühle zu zeigen. Als er in der vierten Klasse seine erste Brille bekommt, wird sie zu seinem Versteck, seinem Schutz gegen die Umwelt. Mit der Sehkraft wächst sein Drang, genau zu beobachten. Schönheitsideale im landläufigen Sinne interessieren ihn nicht, er entdeckt Schönheit, wo sonst niemand welche findet. „Auf diese Weise versuchte ich zum Inneren der Dinge vorzudringen, deren Äußeres man sehen, hören, riechen und berühren konnte.“ Fähigkeiten, die ihn später zu einem außergewöhnlichen Bildhauer machen werden.
Zwei Frauen spielen eine wichtige Rolle in seinem Leben: L., die junge Studentin, stark übergewichtig, gepeinigt von Selbstzweifeln und einer Essstörung und E., eine attraktive Innenarchitektin, nach außen hin kühl und beherrscht, mit einem Geheimnis, das tief drinnen an ihr nagt. Beide werden seine Modelle, zu beiden entwickelt er – der sonst sehr zurückgezogen lebt – besondere, intensive Beziehungen, von denen er in seinem Manuskript berichtet. Durch die Auseinandersetzung und Nähe beginnen die Fassaden zu bröckeln.
Die vielfach ausgezeichnete koreanische Autorin Han Kang geht in ihrem Buch „Deine kalten Hände“ dahin, wo es weh tut. Krass und teilweise widerlich, aber auch zärtlich und berührend erzählt sie von Menschen, die sich und ihre Gefühle verstecken, die sich in sich selbst zurückziehen und Mauern unterschiedlichster Art um sich errichten. In einer Welt, in der der äußere Schein mehr zählt als innere Wahrhaftigkeit, in der viele mitten in der Anonymität der Masse einsam sind, trifft sie mit diesem Thema den Nerv der Zeit.
Gemeinsam mit Unhyong habe ich unwillkürlich begonnen, alle Äußerlichkeiten zu hinterfragen und Selbstverständlichkeiten auf den Prüfstand zu stellen. „Deine kalten Hände“, übersetzt von Kyong-Hae Flügel, ist ein großartiger Roman, der mich fasziniert, verstört, bewegt und tief beeindruckt hat. Er wird mich sicher noch lange beschäftigen. Klare Empfehlung für alle, die neue Perspektiven schätzen und die Auseinandersetzung mit unangenehmen Emotionen nicht scheuen.
Han Kang: Deine kalten Hände.
Aufbau Verlag, Februar 2019.
312 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.