Szczepan Twardoch: Der Boxer

Ein Mann sitzt in seiner Wohnung und hält mit einer Schreibmaschine seine Erinnerungen fest. „Ich heiße Mojźesz Bernstein, bin siebzehn Jahre alt und ich bin kein Mensch, ich bin ein Nichts…“, schreibt er und fährt nur wenige Sätze später fort: „Ich heiße Mojźesz Inbar, bin siebenundsechzig Jahre alt. Ich habe meinen Namen geändert. Ich sitze an der Schreibmaschine und schreibe. Ich bin kein Mensch. Ich habe keinen Namen.“

Er denkt zurück an das Jahr 1937 in Warschau, als sein Vater durch die Hand des Boxers und Banditen Jakub Shapiro stirbt, weil er das Schutzgeld nicht bezahlen konnte, das Shapiro im Auftrag des Paten Jan Kaplica eintreiben sollte. Mojźesz bewundert Shapiro, er möchte sein wie Shapiro. Er möchte Shapiro sein. Und er erinnert sich, wie dieser ihn nach dem Tod seines Vaters bei sich aufgenommen hat und wie er ihm als unsichtbarer Schatten folgt. Der dünne, vater- und mittellose „Judenbengel“ bewegt sich im Schlepptau des angesehenen Boxers.

Gemeinsam mit Mojźesz taucht der Leser, taucht die Leserin in diese ferne, vergangene und doch ganz nahe Welt ein.

Der Pate Kaplica, Pole, Sozialist und Judenfreund, hat seine Viertel fest im Griff und herrscht mit der Willkür eines Monarchen, dem jeder zu dienen hat. Dabei unterstützt er seine Freunde, straft gnadenlos seine Feinde und die, die ihn verärgern. Für lange Zeit halten die Politik und die Polizei ihre schützenden Hände über ihn.

Jakub Shapiro, Jude und ehemaliger Soldat, gehört zu Kaplicas engstem Zirkel, ist so etwas wie seine rechte Hand. Der Boxer ist ein Frauentyp, er macht was her und weiß das auch. An seinem kräftigen, durchtrainierten Körper trägt er elegante, teure Anzüge. Starke, freie Frauen spielen in seinem Leben eine wichtige Rolle, sie ziehen ihn an: Emilia, die er seine Frau nennt, mit der er zusammenlebt, aber nicht verheiratet ist und die ihm zwei Söhne geschenkt hat; Bordellbesitzerin Ryfka, seine erste große Liebe, mit der er eine wilde Vergangenheit teilt; Anna, Tochter eines polnischen Staatsanwaltes, der ihm nichts Gutes will und Schwester eines Nationalisten, der es nicht auf sich sitzen lassen kann, dass ihn Shapiro beim Boxen besiegt hat. Dem Paten ist Jakub treu ergeben, ist sich auch für schmutzige Aufgaben nicht zu schade, hat aber dennoch ein Ziel: Er möchte König von Warschau werden.

Doch das möchte auch Doktor Radziwilek, Kaplicas undurchsichtiger Stellvertreter und Kompagnon, ein Ingenieur, der fünf Sprachen spricht, aber scheinbar keine richtig. Er macht sich auf der Straße selten selbst die Hände dreckig, ist aber vor allem gegenüber Prostituierten zu extremer Grausamkeit fähig.

Und auch von einer anderen Seite zieht Unheil auf: Die nationalen Kräfte, darunter auch Faschisten, machen mobil. Die Linken, zu denen die Banditen um Kaplica, viele Juden und Arbeiter gehören und die Rechten liefern sich Straßenkämpfe, spinnen Intrigen und streiten um die Macht. Dabei schreckt keiner vor Gewalttaten zurück.

Immer wieder stockt Mojźesz in seiner Erzählung, kehrt in die Gegenwart zurück, misstraut seinen Erinnerungen, fragt sich, ob er tatsächlich noch derselbe Mensch ist wie damals, wer er überhaupt ist, ob er existiert. Geheimnisvoll ist auch der singende Pottwal, den Mojźesz hoch über den Straßen von Warschau schwimmen sieht und der ihn mit glühenden Augen beobachtet. Er weckt Zweifel daran, ob Mojźesz es mit der Realität so genau nimmt oder nehmen kann.

Der preisgekrönte polnische Autor Szczepan Twardoch schafft in seinem dritten Roman eine Atmosphäre, der man sich nur schwer entziehen kann. Obwohl die vielen polnischen und jiddischen Ausdrücke, Straßen- und Familiennamen, die Abkürzungen und politischen Verstrickungen vor allem am Anfang immer wieder meinen Lesefluss gebremst haben und mich zum Nachdenken oder Zurückblättern zwangen, entwickelte das Buch sehr schnell einen Sog und hat mich bis zum Ende (und auch danach) nicht mehr losgelassen.

Detailreich, sinnlich und mit vielschichtigen Figuren zeichnet er das Leben der kleinen und großen Leute nach. Drogen, Alkohol, Verbrechen, Prostitution: Nichts wird ausgelassen in den Kreisen, in denen diese Geschichte spielt. Die Sprache ist hart und zynisch wie das Milieu, manche Dialoge strotzen nur so von Schimpfwörtern. Die teilweise brutalen Schilderungen von Gewalt gehen an die Nieren. Doch immer wieder gibt es auch Szenen, die berühren, die von Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft in einer erbarmungslosen Welt erzählen.

Nebenbei erhält man Einblicke in die polnische Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Judenfeindlichkeit und Nationalismus waren damals nicht nur deutsche Phänomene. Auch in Polen (und in anderen Ländern) wurden rechte Kräfte immer stärker. Insofern ist Twardochs Roman sehr politisch und legt Spuren bis in unsere Zeit.

Banditen, Unterwelt, Korruption, Politik, Gewalt, Liebe: Aus diesen und noch viel mehr Zutaten ist ein beeindruckendes Buch mit Action und Tiefgang entstanden, das sich nicht so einfach weglesen lässt, dafür aber umso nachhaltiger wirkt.

Szczepan Twardoch: Der Boxer.
Rowohlt, Januar 2018.
464 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,95 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.

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