Fast jeder hat schon einmal von Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer gehört. Wer nur die Verfilmungen kennt – von denen ich die der Augsburger Puppenkiste am meisten schätze – hat aber etwas verpasst.
Und so fängt die Geschichte an: Auf Lummerland, einer winzigen, beschaulichen Insel im großen Ozean, leben genau vier Menschen und die Lokomotive Emma. Da sind Lukas der Lokomotivführer, der so großartige Dinge kann wie Loopings spucken und Eisenstangen zu Schleifen binden; König Alfons der Viertel-vor-Zwölfte, der zwischen den beiden Gipfeln der Insel in seinem Schloss thront und regiert; Frau Waas, die den Kaufladen führt und die Einwohner mit allen wichtigen Dingen – zum Beispiel mit ihrem selbstgemachten Erdbeereis – versorgt und Herr Ärmel, der am liebsten spazieren geht und sonst vor allem Untertan ist.
An einem schönen Tag legt das Postschiff vor der Insel an und der Briefträger bringt – etwas ratlos – ein Paket für eine „Frau Malzaan oder so ähnlich“. Natürlich ist allen gleich klar, dass es auf Lummerland keine Frau Malzaan gibt. Die Zahl der Einwohner ist ja ziemlich überschaubar. Doch in der krakelig geschriebenen Adresse kann man mit etwas gutem Willen das Wort „Lummerland“ erkennen. Alfons der Viertel-vor-Zwölfte waltet seines Amtes: „Nun denn“, sagte der König entschlossen, „sonderbar oder nicht, XUmmrLanT kann doch nur Lummerland heißen! Es bleibt uns also nichts anderes übrig, jemand von uns muss Frau Malzaan oder so ähnlich sein.“ (Zweites Kapitel)
Nachdem Frau Maalzan aber partout nicht gefunden werden kann, entscheidet der König, dass Frau Waas – die einzige Frau auf der Insel und damit die wahrscheinlichste Adressatin des Pakets – die königliche Erlaubnis bekommt, das Paket zu öffnen. Heraus kommt ein kleines schwarzes Baby, dessen sich die gute Frau Waas annimmt und das der fünfte (wenn man Emma nicht mitzählt) Bewohner der Insel wird – Jim Knopf.
Doch als Jim heranwächst, wird es eng auf der kleinen Insel. Der König warnt vor einer Überbevölkerung. Er denkt darüber nach, entweder Jim wegzuschicken oder den Bahnverkehr einzustellen. Weil sich Lukas weder von seiner Lokomotive noch von seinem besten Freund Jim Knopf trennen will, sticht er mit den beiden heimlich in See, um eine neue Bleibe zu finden.
In Mandala treffen sie zum ersten Mal wieder auf Land. Die Sitten und Gebräuche sind ihnen fremd und das Essen ist so gar nicht nach ihrem Geschmack, aber sie finden mit dem Kindeskind Ping Pong einen Freund und Unterstützer, auf den sie sich verlassen können. Als sie erfahren, dass die Tochter des Kaisers, Prinzessin Li Si, entführt wurde, machen sich die beiden mutigen Gäste auf die Suche und müssen bis zum guten Ende ein paar gefährliche Abenteuer überstehen. Sie überwinden ihre Angst und gehen einem Riesen nicht aus dem Weg, sie durchqueren gefährliche Landschaften wie das „Land der tausend Vulkane“, treffen Halbdrachen und echte Drachen. Nebenbei finden sie auch eine erste Spur von Jims Herkunft – wer neugierig ist, sollte die Fortsetzung „Jim Knopf und die Wilde 13“ lesen. Emma, die zuverlässige Lokomotive, hilft ihnen nicht nur einmal aus der Patsche.
Was soll man über dieses Buch und über Michael Ende noch sagen? Dieser zeitlose Klassiker ist nicht nur für Kinder absolut lesenswert. Die Geschichte unterhält Menschen aller Altersklassen mit witzigen, fantasievollen Ideen, unglaublichen Abenteuern und liebenswerten Protagonisten. Viel Charme verbreiten auch die Zeichnungen von F. J. Tripp, die schon die Original-Ausgabe geziert haben.
Ohne erhobenen pädagogischen Zeigefinger vermittelt Michael Ende Werte, die auch heute – fast 60 Jahre nachdem das Buch erstmals veröffentlicht wurde – noch wichtig sind: Er zeigt, dass Mut nicht die Abwesenheit von Furcht ist, sondern deren Überwindung, dass Freundschaft und Vertrauen grenz- und kulturübergreifend wachsen können, dass man heimatverbunden und gleichzeitig weltoffen sein kann. Dinge, die man in der heutigen Zeit nicht oft genug sagen kann.
Mancher mag sich daran stören, dass das Buch nicht in allen Details „politisch korrekt“ ist. Doch ich halte nichts davon, Originale umzuschreiben. Auch Michael Ende, Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer sind Kinder ihrer Zeit und müssen in diesem Kontext gesehen werden. Die positiven Aspekte der Erzählung überwiegen für mich bei Weitem.
Es lohnt sich auf jeden Fall, das Buch mal wieder oder zum ersten Mal zur Hand zu nehmen – zum Vorlesen und selber Lesen. Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer können in jedem Alter begeistern.
Michael Ende: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer (1960).
Thienemann Verlag, Juli 2015.
272 Seiten, Gebundene Ausgabe, 17,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.
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