Friederike von Aalen lebt und arbeitet auf Gut Mohlenberg, einer Einrichtung für Menschen mit einer psychischen Erkrankung oder geistigen Behinderung in der Nähe von Lüneburg. Sie unterstützt ihren Vater, der diese Anstalt gegründet hat, vor allem bei der Verwaltung, aber auch zu den Bewohnerinnen und Bewohnern hat sie ein gutes Verhältnis. Manche kennt sie schon, seit ihrer Kindheit. Sie sieht – genau wie ihr Vater – in ihnen die Menschen, nicht nur die Patienten und weiß, dass oft mehr in ihnen steckt, als auf den ersten Blick sichtbar ist.
Ihren großen Traum, Ärztin zu werden, hat sie kurz vor ihrem Abschluss aufgegeben, um ihren Mann Bernhard pflegen zu können, der im 1. Weltkrieg bei einer Explosion eine schwere Kopfverletzung erlitten hat. Mühsam musste er wieder lernen, sich zu bewegen. Nun – im Jahr 1920 – ist er körperlich fast wieder hergestellt, aber sein Erinnerungsvermögen weist große Lücken auf und geistig ist er auf den Stand eines 5jährigen zurückgefallen. Die Ärzte machen Friederike keine großen Hoffnungen, dass sich sein Zustand noch weiter verbessern wird, doch sie steht treu zu ihrem Mann und kann sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen.
Als Walter Pietsch, ein durch eine Brandwunde im Gesicht entstellter Mann, nach Arbeit auf dem Gut fragt, wollen Friederike und ihr Vater ihm zunächst absagen, weil er keine einwandfreien Papiere vorweisen kann. Aber Bernhard schließt den Fremden auf den ersten Blick ins Herz und er darf bleiben. Die Liebe zu Pferden verbindet die beiden Männer. Walter behandelt Bernhard wie seinesgleichen und das Zusammensein scheint Bernhard gut zu tun. Doch Walter Pietsch bleibt für Friederike undurchsichtig. Sie beschließt, ihn im Auge zu behalten.
Dann geschehen im nahen Dorf kurz hintereinander zwei grausame Morde. Schnell ist die Bevölkerung dabei, die „Insassen der Irrenkolonie“ zu verdächtigen. Man weiß ja nie, wozu solche Menschen fähig sind, vor allem, weil auch das Gerücht geht, dass der schizophrene Schäfer Kuno erst wenige Tage zuvor einem Schaf bei lebendigem Leib den Bauch aufgeschlitzt hat. Auch Dr. Weiß, ein Arzt der Anstalt, pflichtet dieser Theorie bei. Er ist überzeugt, dass in jedem Geisteskranken ein wildes Tier steckt. Es braucht nur einen Schlüsselreiz, um es freizulassen. Diesem Thema widmet er seit langer Zeit seine Forschung.
Während die Polizei ermittelt, nimmt Friederikes Vater eine neue Patientin auf: Juliane Brunner, eine junge Frau aus vornehmem Haus, die sich laut ihrer Familie „in den falschen Kreisen bewegt – mit unschicklichen Folgen.“ (S. 36). Nach einem psychischen Zusammenbruch soll sich Dr. Meinhardt ihrer annehmen. Neben einer geplanten Psychoanalyse, bittet er seine Tochter, sich um sie zu kümmern – sozusagen von Frau zu Frau.
Was in der Folge an Geheimnissen gelüftet wird, ist erschütternd und verstörend. Der Autorin Melanie Metzenthin gelingt es, die Spannung bis zum Schluss hoch zu halten. Gleichzeitig vermittelt sie, was Mitmenschlichkeit und Liebe imstande sind zu leisten. Die bedingungslose Verbundenheit von Friederike und Bernhard hat mich tief berührt.
Trotz des „schweren“ Themas, ist „Mehr als die Erinnerung“ leicht zu lesen, ohne seicht zu sein. Die Tiefe und Lebendigkeit der Charaktere haben die verschiedensten Gefühle in mir ausgelöst – negative wie positive. Beeindruckt hat mich auch, wie Melanie Metzenthin, die als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie arbeitet, ihre Fachkenntnisse in die Geschichte einfließen lässt. Mir persönlich ist es ein großes Anliegen, dass Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung ein ganz „normaler“, als gleichwertig anerkannter Teil der Gesellschaft sind. Auch deshalb begrüße ich es sehr, wenn sie in Romanen eine tragende und differenzierte Rolle spielen dürfen.
„Mehr als die Erinnerung“ ist ein Buch, das bewegt und große Gefühle weckt. Es wird mir lange im Gedächtnis bleiben. Ich kann es nur wärmstens empfehlen.
Melanie Metzenthin: Mehr als die Erinnerung.
Tinte & Feder, Mai 2019.
379 Seiten, Taschenbuch, 9,99 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.
Hallo Beate,
der Rezi ist nichts hinzuufügen. Leicht, ohne seicht zu sein, das trifft es gut.
Ich hab dich hier verlinkt.
LG
Daniela
Liebe Daniela,
du hast den falschen Link angegeben. Du wolltest sicherlich deine Rezi hier angeben. 😉
https://buchvogel.blogspot.com/2019/08/rezension-mehr-als-die-erinnerung.html
GlG, monerl