Die echte erfundene Geschichte beginnt an einem außergewöhnlich warmen Freitag im Oktober. Zwei Menschen, die sich nicht kennen, sich aber schon einmal begegnet sind, bewegen sich für 24 Stunden aufeinander zu, bis ihre Wege sich kreuzen.
Die eine: Toni, eine unangepasste junge Frau, die auf dem Dorf in einem Wohnwagen lebt. Seit sechs Jahren schon. Der Kontakt zu ihren Eltern ist eingeschlafen. Toni hingegen schläft eher schlecht, seit die Sache damals passiert ist. Und die Träume können ihr gestohlen bleiben. Sie jobbt beim Schönen Ringo in der Kneipe und spart für eine Reise nach Neuseeland. Ihre Leidenschaft ist das Zeichnen. Erst vor Kurzem sind ein paar ihrer Bilder zu einem Verlag gelangt. „Morgen wird sie in die große Stadt fahren und die Verlagsfrau treffen, die ihre Bilder gut findet und ein Buch daraus machen will. Verrückte Sache.“ Toni weiß nicht, was man an ihrem Krickelkrakel finden kann, aber besonders das Winterkind mit der roten Pudelmütze und ihr Manteltaschengefährte Herr Jemineh haben es der Verlagsfrau angetan.
Der andere: Alex, der als Roadie für eine Band arbeitet, deren Musiker er nicht mag. Doch seinen alten Job als Fahrer hat er damals aufgegeben. „Manchmal ärgert er sich, dass er nicht ehrgeiziger gewesen ist. Quantenphysik, Wahrscheinlichkeitstheorie, dieses ganze faszinierende Zeug, das wär’s gewesen.“ Aber es hat nur zum Automechaniker gereicht.
Alex liebt seine Frau und seine Tochter, aber er liebt auch „die andere Frau“, die so herrlich unkompliziert ist, ihn nicht schon morgens vollquatscht und keine Ansprüche stellt.
Manchmal wünscht er sich ein Paralleluniversum. „An zwei Orten gleichzeitig sein, das wäre auch gut.“ Dann wäre sein Leben vielleicht anders verlaufen. Aber so schweigt er lieber. Denn: „Zu sagen, was er denkt, war noch nie seine Stärke.“
Die beiden wurden aus der Bahn geworfen. Sieben Jahre ist das jetzt her. Und sie tragen – jeder für sich – schwer an einer Schuld, von der die Leserinnen und Leser Stück für Stück erfahren. Der allwissende Erzähler (oder die Erzählerin) ist bestens über alles informiert und schweift in den Einwürfen gerne auch mal für kurze Zeit ab.
Marion Brasch ist mit „Lieber woanders“ ein Roman gelungen, der vom wahren Leben erzählt. Wie es sein könnte und sicher manchmal auch ist. Leicht und schwer, lustig und traurig, manchmal kaum zu ertragen. Toni und Alex, aber auch die anderen Personen (Figuren klingt mir hier zu künstlich), sind mit ihren Macken und Eigenheiten, ihren Verletzungen und Wünschen so sympathisch und so echt, dass ich mich in (fast) alle ein wenig verliebt habe. Dazu tragen sicher auch die vielen starken Dialoge bei.
Skurril, lakonisch, fantasievoll, schmerzlich, aber trotz des eigentlich „schweren“ Themas auch witzig und sehr warmherzig erzählt Marion Brasch eine Geschichte über zwei Menschen, die an ihrer Vergangenheit zu kauen haben, aber langsam aus der Deckung kommen.
Am Ende ist klar: Jede und jeder hat seine eigene Version der Geschichte und „so ist das mit der Erinnerung – sie führt uns an der Nase rum. Oder wir sie, je nachdem.“
„Lieber woanders“ ist ein kleines Buch mit großem Unterhaltungswert und Tiefgang, das ich nur wärmstens empfehlen kann.
Marion Brasch: Lieber woanders.
Fischer, Februar 2019.
160 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.