Kathrin Gerlof: Nenn mich November

Marthe und David sind am Ende, finanziell und mit den Nerven. Nach der Insolvenz ihrer Firma für kompostierbares Geschirr, geht ihnen jetzt auch privat das Geld aus. Sie können die Miete in Berlin nicht mehr bezahlen und ziehen in ein heruntergekommenes Haus auf dem Dorf, das David von seiner Tante geerbt hat.

Das Dorf, umgeben von Genmais-Feldern mit meterhohen, hungrigen Pflanzen und Wald, liegt in der tiefsten ostdeutschen Provinz. Um eine Verbindung zum Internet zu bekommen, steigt Marthe zu Beginn regelmäßig auf einen zwei Kilometer entfernten Hügel mit Fernmeldemast. Denn ohne den digitalen Zugang zur großen, weiten Welt kann sie nicht leben. Sie muss wissen, wie es um die Erde steht, sie sammelt Katastrophen und Statusberichte, um ein Bild davon zu haben, wie es weitergeht: Waldsterben, Meeresverschmutzung, Krieg, Terrorismus, Genozide, es gibt nichts Schlimmes, was sie nicht interessiert und was sie nicht in ihre umfangreiche Privatdatenbank aufnimmt. Marthe ist „angeschlagen an einigen Stellen von Geburt an. Schreckhaft, angstvoll.“ Zu jeder Furcht entwickelt sie ein passendes körperliches Symptom und sie beginnt, mit ihrem linken Arm zu fremdeln. Aber trotz dieser psychischen Instabilität scheint sie sich im Dorf nach ein paar Anfangsschwierigkeiten gut zurecht zu finden. Sie knüpft Kontakte zu Robin – mit knapp 15 Jahren der jüngste der rund 70 Dorfbewohner und einer der wenigen, die noch an eine Zukunft für sich glauben – und zu Radomski, dem Wilderer und Holzfachmann aus dem Nachbarort.

Allerdings macht ihr David Sorgen, der kaum noch redet und immer dünner wird. Ihre langjährige, vertrauensvolle Verbindung bröckelt, nutzt sich immer weiter ab. Der früher immer hoffnungsvolle David zieht sich zurück, Marthe erreicht ihn – trotz der Liebe, die sie füreinander immer noch empfinden – kaum noch.

Zwei Großbauern, Schulz und Krüger, haben das Dorf unter sich aufgeteilt. Es ist ein korruptes Spiel um Macht und Einfluss, das vor allem Schulz genießt, weil er meistens die Oberhand behält. Die Atmosphäre ist trostlos und resigniert, das Gegenteil von blühenden Landschaften. Wer nicht fortgegangen ist, entflieht – bis auf ein paar Ausnahmen – der Wirklichkeit mit Hilfe des Alkohols oder scheidet freiwillig aus dem perspektivlosen Leben. Und dann ist da noch die Sache mit den ungeklärten Todesfällen in Krügers Biogasanlagen. Stecken die Frauen dahinter, die sich einmal wöchentlich im improvisierten Dorfladen treffen oder sind es tatsächlich Unfälle gewesen?

Als Schulz Flüchtlinge ins Dorf holt und in den Barracken am Waldrand einquartiert, beginnt das lethargische Gleichgewicht im Ort zu wackeln.

„Nenn mich November“, der neueste Roman der Berliner Autorin Kathrin Gerlof, ist ein ganz besonderes Buch. Lakonisch, mit hintergründigem Humor und mit Sympathie für ihre Figuren, erzählt sie vom Leben, wie es sein kann und wie es oft auch ist: hart, frustrierend, skurril, absurd, aber meistens irgendwie machbar und manchmal sogar glücklich. Marthe – die gerne November genannt werden will – mischt sich immer wieder für ein paar Sätze mit ihrer eigenen Stimme in die Erzählung ein. Satzenden bleiben in der Luft hängen, werden von ihr aufgegriffen, später fortgeführt oder enden im Nirgendwo.

Der Roman streift viele gesellschafts- und umweltpolitische Themen von Armut, Asylbewerbern, Agrar- und EU-Förderpolitik, über Gentrifizierung, die Flucht aus ländlichen Regionen und die Vereinsamung bis zu Verpackungsmüll, Genmais und Klimaerwärmung. Das könnte die Leserinnen und Leser erschlagen, es könnte sie mutlos machen. Aber Kathrin Gerlof schafft es, in dieser ganzen Trostlosigkeit „Glühwürmchen der Hoffnung“ durchscheinen zu lassen. Wichtig ist, dass man etwas hat, das einen weitermachen lässt, Ziele oder Träume, und seien sie noch so klein.

Ein Buch wie der Herbst, wie ein Novembertag, an dem die Sonne mit dem Nebel kämpft. Manche können sie sehen, manche nicht. Und auch der Nebel kann wunderschön sein.

Ein außergewöhnliches, sehr empfehlenswertes Leseerlebnis.

Kathrin Gerlof: Nenn mich November.
Aufbau Verlag, September 2018.
350 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.

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