Kim hat keine Lust, seinen 50. Geburtstag zu feiern, zumindest nicht mit vielen Menschen. Nur mit der Familie, vielleicht noch mit seinen wenigen engen Freunde, so könnte er es sich vorstellen. Mit zunehmendem Alter meidet er die Gesellschaft. Immer mehr lange verschüttete Gedanken und Gefühle kommen ans Licht.
„Er hatte mehr erreicht, als er jemals zu träumen gewagt hatte.“ Kim, der Flüchtlingsjunge, der seinen Traum von Familie und Selbständigkeit als Architekt verwirklichen konnte. Aber die Glücksgefühle von früher wollen sich nicht mehr einstellen. Er zweifelt daran, ob sein Leben tatsächlich in den richtigen Bahnen verläuft, aber noch verdrängt er die dramatischen Ereignisse aus seiner Jungend, so gut er kann.
Doch seine Frau Ines plant – ohne sein Wissen – eine große Feier und auch die Kinder haben eine Überraschung für ihn: Jonas, der Jüngste, hat Tevi Gardiner eingeladen. Die Tevi, die als Kind Ende der 1970er Jahre gemeinsam mit Kim in das österreichische Dorf P. nahe Linz gekommen war, die Tevi, die er auf der gefährlichen Flucht durch den kambodschanischen Dschungel tagelang getragen hatte, weil ihr die Ruhr und der Tod ihrer Familie alle Kraft genommen hatten.
Viele Jahre hatten Kim und Tevi keinen Kontakt. Nun steht sie einen Tag vor dem Geburtstagsfest in seinem Haus. „Kim nickte mechanisch. Er machte einen Schritt auf Tevi zu, sagte: ‚Meine Güte, wie lang ist es her?‘, wollte ihre Hand ergreifen, schien es sich anders zu überlegen und umarmte sie schließlich steif. Ebenso steif erwiderte sie die Umarmung.“
Schnell wird klar, dass verborgene Verletzungen und unausgesprochene Gefühle die Beziehung zwischen Tevi, Kim und Ines belasten. Die Atmosphäre ist angespannt, das merken selbst die Kinder und Monika, Ines‘ Mutter, die Kim und Tevi nach der Flucht in ihrer Familie aufgenommen hatte. Doch zunächst versuchen noch alle, die Wogen zu glätten und die explosive Stimmung zu entschärfen.
Nach und nach enthüllt die österreichische Autorin Judith W. Taschler die Geschichten ihrer Figuren und lässt die Leserinnen und Leser ganz dicht an sie heran. Dabei spielt sie mit Erzählperspektiven und Zeitebenen und schafft es so, die Spannung bis zum Ende hoch zu halten. Sie führt die Leserinnen und Leser in den kambodschanischen Bürgerkrieg und die Schreckensherrschaft der Roten Khmer, berichtet von den Gräueltaten, vom Überlebenskampf, von Traumatisierung und vom Missbrauch der Kinder und Jugendlichen als Soldaten, aber auch von ihren Wünschen und Träumen.
Sie macht deutlich, dass die Rollenverteilung zwischen Tätern und Opfern nicht immer eindeutig ist, dass jeder Mensch eine eigene Sichtweise auf die Geschehnisse hat und dass Worte und Verhaltensweisen höchst unterschiedlich interpretiert werden können. So ist auch der Umgang von Tevi und Kim mit ihrer Vergangenheit höchst unterschiedlich. Tevi arbeitet für die UNO, unterstützt den Wiederaufbau Kambodschas und fühlt sich ihrem Heimatland verbunden. Kim hingegen möchte das alles hinter sich lassen. Für ihn ist Österreich die Heimat, seit der Flucht hat er Kambodscha nur einmal besucht.
Dass Judith W. Taschler eine innere Verbundenheit mit dem Thema hat, habe ich während des Lesens gespürt. „Meine Eltern nahmen im Herbst 1980 eine kambodschanische Flüchtlingsfamilie auf,“ schreibt sie in ihrer Danksagung. Und auch, wenn die Geschichte, die sie in „Das Geburtstagsfest“ erzählt, eine ganz andere und frei erfunden ist: Sie fühlt sich an, wie aus dem Leben gegriffen.
Bisher haben mich alle Romane von Judith W. Taschler begeistert, die ich gelesen habe. Auch „Das Geburtstagsfest“ macht hier keine Ausnahme. Klare Empfehlung von mir.
Judith W. Taschler: Das Geburtstagsfest.
Droemer, April 2019.
400 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.