Der Anfang des Buches gibt ein paar Rätsel auf. Marie, Dozentin für Literatur an der Prager Universität, sitzt im Oktober reichlich angeschlagen in der (sonst unbewohnten) Wohnung ihrer Schwester in Krumlov, als die Polizei anruft. Ihr Wagen steht mitten auf einem Feld in ihrem Heimatort, nicht weit entfernt. Außerdem liegt dort auch die Meldung einer schweren Körperverletzung vor. Maries Schwager behauptet, dass er das Auto – einen SUV – einfach mal im Gelände ausprobieren wollte und steckengeblieben ist. Von einer Körperverletzung will er nichts wissen. Keiner glaubt ihm – weder die Polizei noch Marie. Marie hat sowieso andere Sorgen. Anfang des Jahres hat sich ihr Mann Luboš von ihr scheiden lassen. Seine neue Lebensgefährtin ist nur wenig älter als die gemeinsame Tochter Lenka, die derzeit in Wien studiert und ihren Vater seither meidet. Marie ist verwirrt und einsam.
Und das sind noch nicht alle „Baustellen“, mit denen Marie zu tun hat. Nach und nach rollt der Autor Jiří Hájíček auf, wie sich die Sache so zugespitzt hat – angefangen im Januar. Jedem Monat des Jahres 2018 – in dem Marie eine emotionale Berg- und Talfahrt erlebt – widmet er ein Kapitel. Es geht um die Freundschaft zu ihrem verheirateten Kollegen Milan Koutský, der sich mehr erwartet, als Marie zu geben bereit ist, um ihre Eltern, die alt und krank sind und um ihre Schwester Veronika, die ein Vorwurf auf zwei Beinen ist – schließlich sitzt ihre überhebliche Schwester in Prag und nur sie – Veronika – kümmert sich um die bedürftigen Eltern. Die Wohnung, die Luboš Marie überlassen hat, kommt ihr fremd vor. Immer öfter flieht sie in ein Café in der Stadt. Als es den Eltern immer schlechter geht, beschließt Marie, Veronika zu unterstützen und zieht über den Sommer in die alte Heimat. Sie sucht Orientierung, aber auch Freiheit und testet diese aus, als der junge Buchhändler Filip versucht, ihr näher zu kommen.Marie versucht, die Vergangenheit zu ergründen, um für sich Perspektiven für die Gegenwart und die Zukunft zu gewinnen. Was steckt hinter der alten Feindschaft ihres Vater mit dem Nachbarn Hanzal? Hat ihr Vater früher tatsächlich zu viel getrunken oder erinnert sie sich daran nicht richtig? Wollten die Eltern nie weg aus dem Dorf und von ihrem Hof oder sind sie nur hängengeblieben? Und Maries Klassenkameraden, die immer noch dort leben – sind sie nur mangels Alternativen hier oder fühlen sie sich wohl? Können die Lebensentwürfe der anderen Marie als Vorbild dienen?
Jiří Hájíček, einer der aktuell bedeutendsten tschechischen Autoren, lotet Maries Gefühle aus: ihren Frust, ihre Ängste und ihre Hoffnungen, ihren Wunsch nach Aufbruch, nach einer festen Basis und ihre Rückschläge. Was für eine Art von Liebe wünscht sie sich? Welche Art von Beziehung ist die richtige für sie? Und ist sie nicht schon zu alt für einen Neuanfang? Diese Fragen werden nicht theoretisch abgehandelt, sondern sind in die Handlung eingebettet und ganz praktisch in Maries Verhalten verankert. Bei einer Protagonistin, die Literatur unterrichtet, dürfen natürlich auch die Anknüpfungspunkte an berühmte Bücher und Zitate nicht fehlen.
Den Roman „Vignetten mit Segelschiff“ zu lesen, ist ein intellektuelles Vergnügen, doch gleichzeitig emotional berührend und spannend. Ich habe mit Marie gelitten und gehofft, konnte die Fragen, die sie sich in dieser Lebenskrise stellt, sehr gut nachvollziehen und habe mich auch selbst damit beschäftigt. Für mich ist sicher: Man kann sein Leben in jedem Alter ändern, kann Neues beginnen und die gewohnten Bahnen verlassen. Aber man muss es nicht.
„Vignetten mit Segelschiff“ ist ein sehr lesenswerter Einblick in die tschechische Vergangenheit und Gegenwart und in das Leben einer Frau, wie sie überall leben könnte.
Klare Empfehlung für alle, die sich für Gegenwartsliteratur interessieren, die zwar tiefgründig, aber dennoch nicht schwierig zu lesen ist.
Jiří Hájíček: Vignetten mit Segelschiff.
Karl Rauch Verlag, Mai 2021.
272 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.