Ist unser Immunsystem wirklich nur zu unserem Schutz da? Oder ist es vielleicht ein egoistisches System, das sich im Zweifelsfall auch gegen uns wenden kann? Neuere Forschungsergebnisse kommen laut Barbara Ehrenreich zu genau diesem Ergebnis. Demnach operieren Makrophagen, auch bekannt als Fresszellen, durchaus eigensinnig und können zum Beispiel das Wachstum von Krebszellen fördern, statt es zu unterdrücken.
Eine für Barbara Ehrenreich folgenschwere Erkenntnis. Besagt diese doch nichts weniger, als dass unser Körper kein harmonisches System ist, in dem alle Teile an dessen Erhaltung arbeiten, sondern vielmehr ein Konglomerat aus egozentrischen Lebensformen, die ihren eigenen Vorteil suchen. Auch wenn dieser mittel- bis langfristig mit dem Tod ihres Wirtsorganismus und daher auch mit ihrem eigenen einhergeht.
Ist es vor diesem Hintergrund sinnvoll, das Immunsystem zu stärken? Gerade dann, wenn eine Krebserkrankung diagnostiziert wurde, scheint das genau die falsche Maßnahme zu sein.
Inwieweit ist es vor solch einem Hintergrund überhaupt sinnvoll, zu oft risikobehafteten Vorsorgeuntersuchungen zu gehen, sich mit Ernährungs- und Fitnessprogrammen zu stärken und sein Leben achtsam und positiv zu führen? Die Subsysteme unseres Körpers haben ohnehin ihren eigenen Willen. Oder zumindest etwas Vergleichbares. Zumindest kann man sich nicht darauf verlassen, dass sie so funktionieren, wie man es erwarten würden.
Dieser Erkenntnis stellt Ehrenreich ihrer Erfahrungen mit Ärzten gegenüber, in deren Verhalten sie oftmals ritualisierte Handlungen sieht, die den magischen Praktiken von Medizinmännern sogenannter primitiver Völker ähnlich sind. Deutlich sagt sie: „Die Medizin verdankt ihre Autorität der Annahme, sie gründe sich auf Wissenschaft.“ (Seite 47).
Harsche Kritik übt sie in diesem Zusammenhang an risikoreichen, unangenehmen und häufig entwürdigenden Untersuchungen, denen sich Frauen und Männer unterziehen sollen. Zudem stellt sie in Frage, inwieweit die Ergebnisse von Mammographien, Prostatauntersuchungen und anderen Vorsorgemaßnahmen dem Patienten tatsächlich helfen oder ihn nicht vielmehr sogar einem zusätzlichen Risiko aussetzen.
Für sich selbst hat sie entschieden, auf Vorsorgeuntersuchungen zu verzichten, das zu essen und zu trinken, was ihr schmeckt und überhaupt das Leben zu führen, das ihr Spaß macht. Krankheit und auch den Tod will sie akzeptieren und nicht, wie in unserer Gesellschaft üblich, von sich schieben. Sie kritisiert, dass uns die Fähigkeit fehle, unser eigenes Ich aufzugeben. Erst dann sei es möglich, die Welt in ihrer Lebendigkeit wirklich zu genießen und eben auch den Tod nicht mehr zu fürchten.
Das sind Erkenntnisse, mit denen ein Mensch von über 70 Jahren sicherlich eher umgehen kann, als etwa ein 30jähriger. Krankheit und Tod zu akzeptieren, ist für einen alten Menschen gewiss leichter, als es für einen jungen ist. Dennoch lohnt es sich, darüber nachzudenken. Wie überhaupt das ganze Buch mich immer wieder zum Nachdenken gebracht hat. Man muss Ehrenreichs Einschätzungen nicht zustimmen. Und an mancher Stelle hatte ich den Eindruck, dass sie Themen etwas zu einseitig beleuchtet. Aber sie stellt in diesem Buch eine ganze Reihe Fragen und spricht Themenbereiche an, über die es wirklich lohnt, sich einmal Gedanken zu machen – und dabei vielleicht auch eigenen Verhaltens- und Denkweise zu hinterfragen.
Mein Fazit: Ein gut lesbares, dabei aber alles andere als einfaches Buch, mit dem zu beschäftigen sich unbedingt lohnt.
Barbara Ehrenreich: Wollen wir ewig leben? Die Wellness-Epidemie, die Gewissheit des Todes und unsere Illusion von Kontrolle.
Verlag Antje Kunstmann, März 2018.
240 Seiten, Taschenbuch, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Christian Rautmann.