Womit soll ich anfangen? Vielleicht mit „Luzia mit vierzehn Jahren“ (so der Name der Geschichte), die gerne „spintisiert“, wie es der Vater nennt, und sich dabei frei fühlt, „[ … ] als wäre die Welt durchsichtig, als würden Vergangenheit und Zukunft zu wunderbaren, klaren Bildern verschmelzen, die in Eiern darauf warteten, dass ein freier Mensch sie erlöse [ … ]“
So eigen und oft surreal wie Luzias Gedanken sind auch die Erzählungen der Autorin Adelheid Duvanel. Ihre hinreißenden Texte wimmeln nur so von poetischen sprachlichen Bildern, die mich gefangengenommen haben und hängengeblieben sind. Oft ist die Natur lebendig wie in der Erzählung „Neid“: „Manche Bäume grimassierten, als seien sie gezwungen, unter Wasser zu lächeln, und die Nacht rollte einen schwarzen Teppich über den Rasen.“ Und in „Catalina“ heißt es: „Der Abend ist hellgrün und schaukelt den ertrinkenden Mond.“ Vielleicht hängt das damit zusammen, dass die Autorin auch gemalt hat. Sie schreibt sinnlich, mit wenigen Worten und Wendungen erschafft sie ganze Lebenswelten. Die Szenen scheinen sich wie in einem Film oder auf einem Gemälde vor den Leser*innen aufzubauen.
Die Figuren sind oft Menschen, „[ … ] die mit den Spielregeln der Welt nicht zurechtkommen.“, wie die Herausgeberin Elsbeth Dangel-Pelloquin in ihrem Nachwort schreibt. Viele scheinen mir ein tragisches Schicksal mit sich herumzutragen, aber erstaunlich viele kommen auch damit zurecht, sie arrangieren sich oder finden sogar ein kleines Glück. Neben der Tragik hat aber auch eine hintergründige Komik und Ironie ihren Platz, zum Beispiel in der Erzählung „Ein rasanter Abbau“, in der (in einer Geschichte in der Geschichte) ein Schriftsteller sagt: „In meinem nächsten Buch wird keine Hauptfigur mehr vorkommen und in meinem übernächsten werden auch die Nebenfiguren wegfallen.“
Ab 1960 hat die Schweizerin Adelheid Duvanel zunächst im Sonntagsblatt der Basler Nachrichten, dann auch in Anthologien, anderen Zeitschriften und eigenen Erzählbänden ihre kleinen Wunderwerke veröffentlicht. Viele der frühen Erzählungen sind weniger kompakt und verdichtet, aber kaum weniger kunstvoll gestaltet als die späteren. Man wird in die Texte und in das Leben der Protagonist*innen hineingeworfen und nur kurze Zeit später ist es auch schon wieder vorbei. Manchmal sind die letzten Sätze so schockierend, dass ich erst einmal durchatmen musste, manchmal klingen sie zuversichtlich oder sind völlig offen, aber immer haben sie etwas in mir angerührt und bewegt.
Die Autorin wurde 1936 geboren und starb 1996 in einer kalten Sommernacht in einem Waldstück bei Basel unter Medikamenteneinfluss an Unterkühlung. Ihre kurzen Erzählungen wurden vielfach ausgezeichnet, doch das bewahrte sie nicht vor Psychiatrieaufenthalten und einem unruhigen Leben. Vielleicht konnte sie nur aufgrund dieser Erfahrungen so schreiben, wie sie schrieb. Die Herausgeberin Elsbeth Dangel-Pelloquin hat Adelheid Duvanels sämtliche Erzählungen in diesem Band vereint und gibt in einem Nachwort einen Einblick in die Poetik der Autorin. So schreibt sie zum Beispiel über die besonderen Anfänge, die es schaffen „[ … ] den Text mit einem überraschenden Kick anzustoßen“ (Nachwort – Poetik des Anfangs). Die Erzählung „Ein zweites Ich“ beginnt mit dem Satz: „Der Priester erzählt im Schulzimmer vom Kind, das vergaß, sein Nachtgebet zu sprechen, in der Nacht starb und geradewegs zur Hölle fuhr.“ Wenn das keinen Kick gibt …
Auch dem auffälligen erzählerischen Blick, „[ … ] der wie durch ein Vergrößerungsglas auf merkwürdig Partikulares, auf minimale Details fällt.“ (Nachwort – Poetische Verfahren) widmet sie seinen Absatz.
Die Schriftstellerin Friederike Kretzen geht in ihrem Essay am Ende des Buches auf Adelheid Duvanels Leben und Schaffen, aber auch auf ihre eigene persönliche Beziehung zu dieser Autorin ein. Beide höchst lesenswerten Texte – Nachwort wie Essay – helfen dabei, die Erzählungen einzuordnen und sie besser zu verstehen – soweit man sie überhaupt verstehen kann. Sie geben Denkanstöße und sind gleichzeitig voller Wertschätzung für diese so außergewöhnliche Autorin.
„Fern von hier“ ist mit seinen knapp 800 Seiten kein Buch, das man am Stück verschlingt, aber auch kein Buch für eine Entspannung zwischendurch. Die kurzen Erzählungen haben es in sich und arbeiten in einem nach. Der Band wird mich noch lange begleiten und ich werde sicher viele der Erzählungen mindestens noch einmal lesen. Wer poetische, überraschende, außergewöhnliche und tiefgehende Texte mag, sollte an Adelheid Duvanels sämtlichen Erzählungen nicht vorbeigehen.
Adelheid Duvanel: Fern von hier: Gesammelte Erzählungen.
Limmat, August 2021.
792 Seiten, Gebundene Ausgabe, 39,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.