Volker Kutscher: Lunapark

Es gibt ein eindeutiges Anzeichen dafür, dass der Roman ziemlich gut ist. Ich konnte ungefähr zehn Seiten davon nicht ertragen. Das ist mir schon lange – eigentlich noch nie passiert. Aber die Szene in der Dr. M. Gereon Rath den Ernst der Lage erklärt und dabei ein unschuldiges Wesen tötet, ist mir unter die Haut gegangen. Es kündigte sich schon so drei bis vier Seiten vorher an, dass diese Szene einfach zu idyllisch war, dass das nicht gut ausgehen würde und doch kam es dann völlig unvorbereitet. So schreibt man Spannung. In den Jahren der Vorbereitung zu Holocaust, während Menschen verschwinden und politische Morde an der Tagesordnung sind, gelingt dem Autor noch so ein Turn (den ich ihm bis zum Ende jedes seiner Bücher übel nehmen werde), trotzdem: WOW.

Gereon Rath ermittelt im Berlin von 1934. Inzwischen (es ist ja bereits der 6. Band der Reihe) ist er mit Charlie verheiratet und hat Fritz als Pflegesohn aufgenommen. Das ist insgesamt eine Konstellation, die jetzt schon anfängt, brisant zu werden, und in der Zukunft noch manchen Kummer bringen wird. Der Autor hat die Familie sehr geschickt aufgebaut: Gereon selbst, der die neuen braunen Machthaber nicht mag, aber auch keine potenzielle Gefahr sieht, sondern höchstens eine vorübergehende Unbequemlichkeit und dessen Karriere brisanterweise gerade ins Leere läuft. Dazu Charlie, die alles hasst, was auch nur entfernt nationalsozialistisch ist und heimlich Sozialisten und Kommunsten hilft. Und dazu der Junge Fritz, der gerade mit Begeisterung sein erstes Braunhemd trägt. Konsequenterweise steht in diesem Band auch der Umbruch in Deutschland deutlich mehr im Vordergrund als in den Vorgängerbänden. Auch Raths Vergangenheit ist hier ziemlich in den Hintergrund getreten. Natürlich gibt es auch einen Kriminalfall, schließlich ist Gereon Rath immer noch Kommissar, aber das Buch handelt mehr von den Schwierigkeiten, die er sich einfängt, als er in der SA-Szene ermitteln muss. Volker Kutscher ist es gelungen, die Stimmung der ersten Jahre nach 33 in einem stimmigen Roman einzufangen. Stück für Stück verändert sich das Leben in Deutschland und auch eben der Familie Rath, nicht unmerklich, aber doch so, dass man es unter Umständen noch sehr lange ignorieren kann. Dass Kutscher die Geschichte eben nicht aus der Sicht von direkt betroffenen erzählt, macht die Romane seit dem ersten Band so faszinierend. Gereon Rath wird eben nicht verfolgt, er wird nur ein wenig eingeschränkt und seien wir doch mal ehrlich, seine Laufbahn war doch schon so gut wie zuende, als er nach Berlin kam. Er ist weder Jude noch Kommunist noch schwul, wenn er sich anpasst, kann er noch einige Jahre gut unter dem Regime leben. Die Frage für den nächsten Roman ist jetzt: Wie weit kann und will sich ein Gereon Rath mit den Umständen arrangieren.

Übrigens werden die Romane um den Berliner Kommissar gerade verfilmt. Unter dem Titel „Babylon Berlin“ laufen die Dreharbeiten schon. Ich gebe zu, ich habe mir Gereon Rath anders vorgestellt, bin aber trotzdem schon sehr gespannt auf das Ergebnis 2017.

Volker Kutscher: Lunapark.
Kiepeheuer&Witsch, November 2016.
560 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,99 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Regina Lindemann.

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