Viktor Martinowitsch: Revolution

„[…] Wenn du das liest und dich entsetzt […], berücksichtige bitte die Plötzlichkeit des Ganzen. Ich konnte nicht eine Sekunde nachdenken und überlegen. Das hatten sie, wie es aussieht, auch so kalkuliert.“ (S. 195)

Der Ich-Erzähler Michail gerät in den Fokus einer geheimen Organisation, deren Strukturen so diffus sind wie ihre Ziele. Seltsame Umstände bringen ihn in einen Konflikt mit der Polizei, die mit einer Gefängnisstrafe droht. Doch der Zufall schickt ihm die Hilfe eines fremden Freundes. Michail ist gerettet und gleichzeitig in einer Abhängigkeit gefangen, weil die neuen Freunde von ihm Gegenleistungen verlangen. Spontane Anrufe katapultieren ihn in Gewissenskonflikte. Von einem Mittfünfziger, dessen Gesicht und Leibesfülle für ein geruhsames Leben sprechen, erfährt Michail, dass die eigene Unversehrtheit nur über erfolgreiche Aufträge gesichert ist.

Im Laufe der folgenden Monate lernt Michail alle Hemmschwellen zu überwinden.

Viktor Martinowitsch studierte Journalistik und lehrt heute Politikwissenschaft. Revolution ist sein dritter Roman und wurde wie die vorhergehenden Romane von Thomas Weiler übersetzt. Der Autor thematisiert in seinem aktuellen Roman die Auswirkungen der Macht. Der Gegenspieler des Ich-Erzählers, der alte Batja, erklärt sein Erfolgsrezept: Macht müsse man sich nehmen und jeden aus dem Weg räumen, der etwas dagegen habe. Die Macht, die durch eine Wahl gewährt wird, sei keine Macht im eigentlichen Sinne.

Zu Beginn der Geschichte lehrt der Ich-Erzähler als unbedeutende Honorarkraft Semiotek an einer Moskauer Universität. Die Wissenschaft von Zeichenprozessen in der Kultur und Natur könnte Michail zu einem Sehenden machen, zu jemandem, der die Vorzeichen zu deuten weiß. Trotzdem kann er nicht verhindern, einen Parkour voller Zweifel und Ängste zu überwinden. In seinem Fokus stehen so viele Zweifel, wie ein Intellektueller gegenüber dem Verbrechen und der Gewalt nur haben kann. Ständig wägt er ab und misstraut seinen Wahrnehmungen, bis ihm die Fragen ausgehen und nur noch das Handeln und Gehorchen im Vordergrund stehen.

Am Ende hat er alles verloren und einiges gewonnen. Während eine Macht seinen Körper bis auf die letzte Zelle gekapert hat, ist ihm nur noch wenig von seiner freien Meinung geblieben. Dieser Rest zeigt einerseits Batjas Übermacht und zugleich dessen Grenzen auf.

Im Stillen sehnt sich Michail nach seiner verlorenen Liebe. In ihm wächst der Gedanke heran, sich ihr über das Schreiben eines Romans zu erklären. „[…] Mein Kalkül ist simpel: Ernst zu nehmende Menschen lesen keine Bücher.“ (S. 7) Seine alte Liebe würde schon erkennen, dass der Ich-Erzähler den Autoren erfunden hat und nicht umgekehrt. Michail spricht ganz konsequent zu einem Du und hofft, dass dieses Du Teil der überschaubaren Leserschaft ist.

Eine Tarnung erfüllt ihren Zweck, wenn sie niemanden auffällt. Dem Autoren Viktor Martinowitsch ist dies genauso klar wie dem Ich-Erzähler Michail. Beide verwenden zur Ablenkung Geschichten in den Geschichten, die etwas erklären, das man am besten in ihrem Wirken erklären kann. Wenn Michails Kalkül aufgeht, dürfte kein Mächtiger Bücher lesen. Viktor Martinowitschs Debüt wurde in seiner Heimat inoffiziell verboten. Dies hat ihn nicht davon abgehalten, weiter zu schreiben und dies sehr originell und systemkritisch. Seine Geschichten sollen und können beunruhigen.

Viktor Martinowitsch: Revolution.
Verlag Voland & Quist, Januar 2021.
400 Seiten, Taschenbuch, 24,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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