Victoria Mas: Die Tanzenden

„,Louise. Es ist Zeit.‘ Mit einer Hand zieht Geneviève die Decke weg, unter der zusammengekauert auf der schmalen Matratze der schlafende Körper der jungen Frau liegt.“

So wünscht sich LeserIn den Beginn einer Geschichte. Ohne Umschweife hinein in die Handlung. Impliziert mit Fragen, die sich aufdrängen und neugierig machen: Wer ist Louise? Wer ist Geneviève? In welcher Beziehung stehen die beiden zueinander?

„Die Tanzenden“ ist der Debutroman von Victoria Mas und wurde mit dem Preis des besten Debuts in Frankreich ausgezeichnet. Ein solcher Preis kann zuweilen eine Bürde sein.

Mit Louise und Geneviève stellen sich zwei der drei Protagonisten gleich am Anfang vor. Später kommt mit Eugénie die Tochter eines angesehenen Pariser Notars hinzu, die von ihrem Vater in das Hôpital de la Salpêtrière gebracht wird, weil nur hier sie den Familiennamen nicht entehren kann.

Im Hôpital de la Salpêtrière leben um 1885 rund 100 Frauen in einem großen Schlafsaal. Sie alle eint, dass sie in den Augen der Pariser Bürger geisteskrank, irre oder einfach verrückt sind. Louisa und Eugénie sind Insassinnen des Hôpital de la Salpêtrière, während Geneviève die Oberaufseherin ist.

Der Roman spielt in den Vorbereitungen des Balls an Mittfasten, auch der Ball der Verrückten genannt. Für die meisten Frauen und Mädchen ist der Ball an Mittfasten der besondere Tag im Jahr, an dem sie von der Welt wahrgenommen werden. Für die Bourgeoisie von Paris ist es ein Tag der Belustigung, des Begaffens der Verrückten, des Bestaunens der zur schaugestellten Geisteskranken aus dem Hôpital de la Salpêtrière.

Eugénie ist nicht verrückt. Geneviève spürt dies, denn Eugénie hat Erscheinungen von Toten und kann mit ihnen sprechen. Auch mit Genevièves toter Schwester Blandine.

Victoria Mas führt mit schlichter, klarer und starker Sprache durch die Handlung. Sie geht dabei chronologisch vor, erspart LeserIn große Zeitsprünge und bleibt immer eindeutig in den Aussagen. Sie bringt uns mit „Die Tanzenden“ das Paris des späten 19. Jahrhunderts näher. Besonders den Umgang mit Frauen, die nicht konform sind, sich nicht den (spießigen) Normen entsprechend verhalten.

Der Roman wirft zugleich Fragen auf. Wie gehen wir heute mit Menschen um, die wir als nicht normal verstehen. Wer erlaubt uns, über andere zu richten? Werden nicht auch heute Menschen mit Medikamenten „ruhiggestellt“, wie auch im Hôpital de la Salpêtrière, weil sie anders sind als die Breite der Gesellschaft?

Victoria Mas macht nicht den Fehler zu werten. Das überlässt sie LeserIn. Sie lässt die Handlung sprechen. Noch ein Textbeispiel (Seite 171): „Ja, zum Glück gibt es den Schlaf, um nicht mehr denken zu müssen.“

Victoria Mas hat mit „Die Tanzenden“ einen besonderen Roman geschaffen. Seine Stärken liegen in der Klar- und Reinheit der Sprache sowie im Umgang mit dem Thema. Der Preis des besten Debuts in Frankreich ist für diesen Roman keinesfalls eine Bürde, denn eine gerechtfertigte Anerkennung für einen starken Debutroman. Lesenswert!

Victoria Mas: Die Tanzenden.
Piper, Juli 2020.
240 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Michael Pick.

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