Véronique Olmi: Nacht der Wahrheit

nachtEine sehr junge Mutter, die sich zusammen mit ihrem pubertierenden Sohn ein Bett in einem kleinen Zimmer teilt, birgt an sich schon genügend Konfliktpotential. Dieser Roman birgt noch viel brisantere Probleme eines heranwachsenden Jungen. Was sich zeilenweise erfrischend amüsant liest, gärt und brodelt, bis das Unheil überkocht.

Der zwölfjährige Enzo Popov ist eine Romanfigur die einem schnell ans Herz wächst. Zusammen mit seiner russischstämmigen Mutter lebt er in Paris, direkt am Palais Royal.
Enzo ist ein Außenseiter, findet keinen Zugang zu seinen Mitschülern. Dabei hat er keine Ahnung, warum das so ist. Für sein Alter ist er ungewöhnlich groß und dickleibig, aber noch mehr ist es seine Herkunft, weswegen die anderen ihn ausgrenzen und hänseln.

Enzos Mutter Liouba ist erst siebzehn Jahre alt, als ihr Sohn unehelich geboren wird. Sie putzt die große Wohnung eines wohlhabenden Ehepaares, das die meiste Zeit die Welt bereist und bei seiner Rückkehr die Zimmer mit Souvenirs vollstellt. Liouba und Enzo bewohnen ein kleines Dienstbotenzimmer dieser großen Wohnung.
Liouba will das Beste für ihr Kind, ihm gute Voraussetzungen für sein späteres Leben schaffen. Sie ist stolz darauf, dass Enzo ein Collège zusammen mit den Kindern gut situierter Eltern im ersten Arrondissement besuchen kann. Doch Enzo, der nie die Chance hatte, bestimmte Verhaltenskodizes zu erlernen oder zu verstehen, bleibt ohne Hintergrundwissen weltfremd und unbeholfen. Liouba bleiben die Nöte Enzos verborgen. Sie wähnt sich in ihrer billigen Imitatkleidung, die Enzo peinlich ist, den gesellschaftlichen Anforderungen angepasst.
Für Enzo kauft sie schwarze Trainingsanzüge, weil er andere Farben mit seiner Figur nicht tragen könne, meint sie. Obwohl sie Enzo stetig mahnt, nicht zu viel Süßes zu essen, hält sie doch immer wieder das von ihm heißgeliebte Nutella und sonstige Süßigkeiten bereit, um ihrem Kind eine Freude zu bereiten.
Samstags geht sie tanzen und bringt nachts meist jüngere Männer mit nach Hause. Enzo bemerkt und sieht sie alle unter seinen halbgeschlossenen Augenlidern, während die Mutter ihre Decke vom gemeinsamen Bett nimmt und mit dem Liebhaber ins Wohnzimmer verschwindet.
Auf die Fragen des Jungen nach seinem Vater oder Lioubas Familienherkunft, verweigert ihm die Mutter die Auskunft.
Enzo, der Literatur und Poesie liebt, sucht und findet Antworten in Büchern und flüchtet sich immer häufiger in seine Gedankenwelten, in denen er Raum und Zeit durcheinanderwebt.
Lehrer und der Rektor vom Collège haben kein Interesse, Enzos Probleme in der Klasse zu hinterfragen.
Was lange geschwelt hat, nimmt immer mehr Formen an: Sich den Russen vorzuknöpfen, bedeutet für Enzos Klassenkameraden, die Gruppe zu stärken.
Ein schrecklicher Übergriff durch seine Mitschüler wird für Enzo (und die LeserInnen) erträglicher, indem Enzo sich währenddessen gedanklich in einen anderen Raum und eine andere Zeit katapultiert.

Trotz des abscheulichen Vorfalls gewinnt Enzo innerlich an Größe und letztlich wird ihm bewusst, was Liouba und er zu tun haben.

Eine eindringliche Geschichte mit lebensnahen, psychologisch feinfühlig ausgearbeiteten Figuren und einem tragischen Plot, der am Ende noch etwas Tröstliches vermittelt.

Véronique Olmi: Nacht der Wahrheit.
Verlag Antje Kunstmann, September 2015.
276 Seiten, Gebundene Ausgabe, 19,95 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.

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