Tim Parks: In Extremis

Thomas steckt nicht nur in der Midlife-Crisis, auch die Welt um ihn herum scheint immer mehr aus dem Ruder zu laufen.  Die Mutter liegt in London im Sterben und dennoch will Thomas bei einer Konferenz für Physiotherapeuten in den Niederlanden einen Vortrag halten. Das schlechte Gewissen, nicht unverzüglich zur Mutter geeilt zu sein, wechselt sich ab mit seinen eigenen körperlichen Unzulänglichkeiten und Beschwerden. Gedanklich spielt  Thomas die Situation um die sterbende Mutter durch, ist sich nicht sicher, ob er sie mit ihrem von offenen Tumoren gepeinigten Körper sehen will. Doch er fühlt sich verpflichtet, der Mutter etwas zu sagen, was er ihr schon längere Zeit verschwiegen hat. Dieses innerliche Dilemma quält ihn mindestens so sehr wie seine Beckenbodenbeschwerden und Blasenprobleme mit schmerzendem Harnverhalten, das auch die Analmassage, der er sich kurz vor seinem Vortrag noch unterzogen hat, nicht mildern kann.

Die Kindheit im sehr christlich geprägten Elternhaus, die Rolle, die seine Geschwister und er in der Familie eingenommen haben, verdeutlichen das eigene Selbstbild.

Die familiäre Situation seines besten Freundes David, der ebenso wie Thomas selbst keine Affäre während den langen Ehejahren ausgelassen hat, beschäftigt ihn gleichermaßen wie die sterbende Mutter. Immer wieder wird er herausgerissen aus seiner Trauer, weil er nicht in der Lage ist, Handy oder Laptop auszuschalten. Dazu kommen noch Gedanken, SMS und Telefonate an und mit Elsa, seiner jungen Geliebten. Doch auch diese kleinen Fluchten werden ebenso zum Stress wie das Linguistentreffen (hier bricht wohl das Alter Ego von Tim Parks durch) zu dem er unmittelbar nach dem Tod seiner Mutter hetzt.

Indem Thomas es allen und jedem recht machen will, werden seine körperlichen Probleme in den Hintergrund gedrängt. In seiner Figur spiegelt sich der moderne Mensch, der stets überall und zu jeder Zeit erreichbar ist und unabkömmlich zu sein glaubt. Dazwischen stehen existenzielle Fragen, die beleuchten, was wirklich wichtig im Leben ist und auf was es ankommt.

Obwohl der Roman Seite um Seite dieselben Problematiken und die innere Zerrissenheit von Thomas immer wieder von vorn aufzeigt, bringt jede neue Ausleuchtung eine neue Erkenntnis und Sichtweise hervor. Wie weit kann man gehen bis man an eine Grenze kommt? Eigene körperliche Defizite und Defekte, die Unzulänglichkeiten des Umfelds, der körperliche Zerfall der Mutter – alles deutet auf ein nahendes, nicht aufzuhaltendes Ende, dem man letztlich auch selbst ausgesetzt sein wird, hin.

Doch dann erscheint das Ende ganz einfach. Der Tod verliert seinen Schrecken im natürlichen körperlichen Sterbeprozess und in der familiären Gemeinschaft.

Einen in vielen Teilen skurrilen Roman gleichzeitig mit so viel  Leichtigkeit und doch ernsthaft und hintergründig zu schreiben ist schon eine kleine Kunst.

Tim Parks: In Extremis.
Verlag Antje Kunstmann, September 2018.
400 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.

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