Thomas Mullen: Die Stadt am Ende der Welt

Thomas Mullens Romane lassen sich nicht anders auf den Punkt bringen als: Sie sind eine Wucht! Brutal, schonungslos, vielschichtig, aufwühlend. Bereits als Mullens Romandebüt 2006 veröffentlicht wurde – seine Welterfolge rund um die „Darktown“-Trilogie sollten noch folgen – sorgte es für Furore. Wie kaum ein anderer versteht es Mullen darzulegen, wozu Menschen fähig sind, wenn sie sich in ihrer Existenz bedroht fühlen. Heute, im Jahr 2022, ist der Plot um den Ausbruch der Spanischen Grippe 1918 in einer amerikanischen Holzfällerstadt voller „Kriegsdienstverweigerer“ von der Geschichte eingeholt worden. Wieder eine Pandemie, wieder ein Krieg. Krisen, die das Beste und Schlechteste im Menschen hervorholen. So hinterlässt der ohnehin schon nervenzerreibend spannende Plot beim Lesen weiteres Unbehagen. Denn in punkto Verhalten hat sich nichts geändert. Während manche nur darauf bedacht sind, ihre eigene Haut zu retten, bewahren andere den Blick fürs Große und Ganze. Wie moralisch flexibel muss man in Notsituationen sein, um zu überleben? Welche Opfer rechtfertigen das Gemeinwohl? Wann darf ein Mensch töten? Was hält die Gesellschaft zusammen?

Um diesen Fragen nachzugehen, nimmt Mullen seine LeserInnen mit in den Mikrokosmos der abgelegenen Holzfäller-Stadt „Commonwealth“ im Staat Washington im Westen der USA. Die in den tiefen Wäldern gelegene Stadt ist anders als andere. Alle Häuser sind gleich, keines hat Schlösser. Die Arbeiter werden nicht wie andernorts ausgebeutet, sondern fair bezahlt und am Gewinn beteiligt. Grund und Boden gehören allen gleich. Ungeachtet von Status und Herkunft hat hier jeder eine Chance, Fuß zu fassen. Stadtgründer und Sägewerksbetreiber Charles Worthy, der einst mitansehen mussten, wie seine Familie und andere Großindustrielle schreckliche Verbrechen an Arbeitern und Streikenden in Kauf nahmen, will es besser machen. Mitsamt seiner Frau Rebecca, einer Sozialistin und Frauenrechtlerin, seiner Tochter Laura und dem 16-jährigen Adoptivsohn Philip will er ein neues Eden aufbauen, in dem alle Menschen gleich sind. Dies scheint zu funktionieren. Bis 1918 kurz vor Kriegsende die Spanische Grippe auch im Westen Amerikas zu wüten beginnt. Worthy entschließt sich dazu, die Stadt unter Quarantäne zu stellen, damit die Krankheit von außen nicht eingeschleppt werden kann. Doch eines Tages steht ein verwahrloster Soldat vor der Absperrung um bittet um Nahrung und Obdach, als Philip und sein älterer Freund Graham gerade die Straßensperre bewachen. Als sich der halb verhungerte Soldat nicht abweisen lassen und in die Stadt dringen will, erschießt ihn Graham. Von Schuldgefühlen geplagt, entschließt sich Philip, als er wenig später einen zweiten Soldaten in den Wäldern

findet, anders zu handeln und dem Mann zu helfen. Zeitgleich erreicht die Grippe auch Commonwealth. Im atemlosen Tempo beginnen Hysterie, Schuldzuweisungen und Desinformationen um sich zu greifen. Der Traum von „alle sind gleich“ scheint geplatzt. Plötzlich scheint sich jeder um sein eigenes Wohl zu scheren, es wird geplündert, Hilfe aus Angst vor Ansteckung unterlassen.

Doch damit nicht genug: Denn neben der Spanischen Grippe bricht auch der Krieg unerwartet über Commonwealth herein. Die zarte Pflanze der Gemeinwohl-Ökonomie, die in der abgelegenen Stadt gepflegt wird, ist den konservativen Kräften anderer Industriellen schon lange ein Dorn im Auge. Die Quarantäne wird zum Anlass genommen, der Stadt Kriegsdienstverweigerer, Kommunisten und das Verstecken von Spionen sowie den verhassten „Krauts“ unterzujubeln. Während die Söhne der Reichen reihenweise an der Front sterben, gelten die Arbeiter in den Sägewerken als kriegswichtig. Persönliche Rachefeldzüge, Profitgier und Angst vor Auflösung alter Machtgefälle vermischen sich auf explosive Art.

Inmitten all dieser Krisen muss sich Hauptfigur Philip behaupten. Der 16-jährige erlebt nicht nur die erste Liebe mit Nachbarstochter Elise, er muss mit seiner tragischen Vergangenheit abschließen, die ihn zum Krüppel werden ließ. Es gilt, schnell erwachsen zu werden. Recht und Unrecht reflektieren wir stellvertretend durch seine Augen.

Was Thomas Mullens Romane so einzigartig macht, ist ihre Schonungslosigkeit. Liebende, Kinder, Schwache und Starke – keiner wird verschont, wie im wahren Leben gibt es keine einfache Erklärung, kein eindeutiges Gut und Böse. Jeder glaubt, im besten Sinne für sich selbst und seine Lieben zu handeln. Damit wird manche grausam anmutende Tat zumindest emotional begreifbar. Das macht den Plot ungeheuer nahbar, impulsiv und vielschichtig. Extrem packend sind auch Mullens Schilderungen von der Erkrankung mitsamt den verbundenen Todeskämpfen und Halluzinationen. Die Träume eines rüttelnden, überfüllten „Todeszuges“, der von Hustenanfällen und Atemnot herrührt, bekommt man so schnell nicht mehr aus dem Kopf. Nicht nur aufgrund der aktuellen Problematiken stellt sich beim Lesen häufig die unangenehme Frage, wie man selbst wohl in der entsprechenden Situation reagiert hätte. In seiner Schlussbemerkung vom August 2020 nimmt Autor Thomas Mullen nochmals Bezug zur Corona-Pandemie – damals freilich noch nicht wissend, dass bald auch ein Krieg die zweite Säule der Romansituation vollends widerspiegeln würde.

Fazit: Unglaublich packend – dieser Roman ist aktueller denn je. Er zeigt, dass Themen wie Gemeinschaftssinn und Freiheit, Recht und Unrecht, Selbstverteidigung und Angriff, Selbstschutz und Selbstlosigkeit immer wieder neu hinterfragt beziehungsweise vergegenwärtigt werden müssen. Denn heute wie vor 104 Jahren gilt: Die Errungenschaften der Zivilisation sind fragil. Alle sind miteinander verbunden, selbst am „Ende der Welt“. Dieser Roman führt dies meisterlich vor Augen.

Thomas Mullen: Die Stadt am Ende der Welt.
Aus dem Englischen übersetzt von Gerlinde Schermer-Rauwolf & Robert A. Weiß.
DuMont Buchverlag, Februar 2022.
480 Seiten, Taschenbuch, 13,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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