Theresia Enzensberger: Auf See

Entlang zweier Handlungsstränge führt Theresia Enzensberger ihre Leser:innen durch diese Dystopie. Der erst befasst sich mit Yada. Sie wächst auf der Seestatt auf, einer künstlichen Insel in der Ostsee vor Deutschland. Ihr Vater war maßgeblich an deren Erbauung beteiligt und ist dort der unmissverständliche Chef. Yadas Mutter ist an einer rätselhaften Krankheit gestorben. Weitere Kinder gibt es auf Seestatt nicht. Ursprünglich sollte die Insel Visionäre vor dem Chaos einer untergehenden Welt retten, autark und demokratisch funktionieren. Inzwischen ist sie aber ein heruntergekommenes Refugium einiger weniger schräger Kauze, die von modernen Sklaven bedient werden. Diese „Mitarbeiter“ müssen abseits auf einem ausrangierten Kreuzfahrtschiff unter üblen Bedingungen hausen. Yada wird von ihrem despotischen Vater überwacht, isoliert und unter Medikamenten gehalten, damit ihr nicht das Schicksal ihrer Mutter widerfährt. Führende Wissenschaftler dieses Planenten unterrichten sie online, ihr Tag ist durchgetaktet und alles Künstlerische, Musische wird von ihr ferngehalten, um ihren Geist nicht zu gefährden. Mit 17 Jahren beginnt sie aber trotzdem, den Blick über den engen Horizont hinaus zu heben, sich Fragen zu stellen und unerlaubt im Computer ihres Vaters zu stöbern.

Im zweiten Handlungsstrang führt Helena Harold ein wahrlich wildes Leben. Sie zieht als moderne Nomadin durch die Nächte, konsumiert Alkohol und Drogen und kümmert sich kein bisschen um Konventionen. Trotzdem gilt sie als die schillerndste Künstlerin Deutschlands. Sie hat zum Spaß im Internet 12 Prophezeiungen getätigt, die zu ihrem großen Erstaunen nach und nach alle eintreffen. So schneit es zum Beispiel Mitte Juli in ganz Europa. Helena malt und hat als Kunstprojekt eine Sekte gegründet, über die sie zunehmend die Kontrolle verliert. Inwiefern Yadas und Helenas Leben miteinander verknüpft sind, erzählt die Autorin in oft düsteren Bildern. Nahezu alle Figuren sind haltlos. Nichts hat Bestand. Helena misstraut dem Staat und allen Institutionen. Sie hat kein Bankkonto, holt Geld bei ihrem Galeristen, der es ihr aushändigt wie Heu. Andere leben in ihrem Auto oder in Slums mitten in Berlin. Nahezu alle Figuren sind desillusioniert, traumatisiert, depressiv, ständig unterwegs.

Fazit: Ein Buch, das ein mulmiges Gefühl zurücklässt. Alles vermeintlich Beständige ist in Auflösung begriffen, große Ideen scheitern verlässlich und tragfähige Strukturen gibt es, wenn, dann nur unter Frauen und im Glücksfall in den rudimentären Resten von Familie.

Theresia Enzensberger: Auf See.
Carl Hanser Verlag, August 2022.
272 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Karina Luger.

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