Tayari Jones: Das zweitbeste Leben

Dana nennt ihren Vater James. Er ist immer nur mittwochs bei ihr und ihrer Mutter. Denn James Witherspoon ist ein Bigamist. Er hat mit seiner Ehefrau Laverne eine Tochter, Chaurisse und mit seiner zweiten Frau, Gwendolyn, ebenfalls, nämlich Dana. Beide Mädchen sind fast gleichalt, nur wenige Wochen liegen zwischen ihren Geburten. Doch Chaurisse und Laverne ahnen nichts vom Doppelleben ihres Mannes bzw. Vaters. Wohingegen Dana sehr genau Bescheid weiß. Und sich sehr für das Leben ihrer Schwester interessiert. Genau das führt schließlich zum Verhängnis.

Die Familienkonstellation, die Tayari Jones in ihrem durchweg fesselnden Roman entwirft, ist kompliziert und sicher nicht weit verbreitet (aber wer weiß das schon). Die Geschehnisse ereignen sind in den Siebziger und Achtziger Jahren in Atlanta, der Hauptstadt des Bundesstaats Georgia in den USA und in Rückblicken auf die Jugend von James, seinem Bruder Raleigh und Laverne in den Fünfziger und Sechziger Jahren. Alle Figuren sind Afroamerikaner, People of Colour, bis auf Raleigh, der einen Weißen als Vater hatte und sehr hellhäutig ist. Und genau diese Tatsache, dass es sich bei allen Charakteren um Farbige handelt, wird mit großem Feingefühl, aber gleichzeitig mit wuchtiger Wirkung thematisiert. Denn jede und jeder ist sich seiner bzw. ihrer Situation vollauf bewusst, wenn zum Beispiel die Mädchen von Ladenbesitzern misstrauisch beobachtet werden oder wenn James darauf hinweist, dass es Bereiche in Atlanta gibt, wo ein Farbiger nicht sein sollte.

Besonders plastisch werden die gesellschaftlichen Verhältnisse anhand von James‘ Beruf dargestellt: James hat einen Limousinenservice und die Fragen, wo Farbige und wo Weiße in einem Auto sitzen und wer bestimmt, wo die Fahrt hingeht, sind für ihn die Fragen seines Lebens.

Aber zurück zur Handlung: James heiratet mit 16 Jahren die vierzehnjähirge Laverne, die ein Kind von ihm erwartet. Zehn Jahre später trifft er Gwendolyn. Sie weiß von Anfang an, dass er verheiratet ist, geht dennoch eine Beziehung mit ihm ein. Als Dana geboren wird, heiratet er Gwen in einem anderen Bundesstaat und wird so zum Bigamisten.

Der erste Teil des Buches schildert die Jahre von Danas Kindheit und Jugend aus ihrer eigenen Perspektive. Prägend für sie sind die Gelegenheiten, bei denen ihre Mutter und sie die „erste“ Familie James‘ heimlich beobachten und deren Situation mit ihrer eigenen vergleichen. Gwen ist sehr geschickt darin, von James die, meist finanzielle, Unterstützung zu bekommen, damit Danas Ausbildung und Lebensstil hinter dem von Chaurisse in nichts zurücksteht. Dennoch fühlt sich Dana immer zurückgesetzt und zweitrangig, eben nur die „zweitbeste“ Tochter. Auch wenn sie vordergründig ein Zusammentreffen mit Chaurisse nicht bewusst herbeiführt, tut sie gleichzeitig nichts, um es schließlich zu verhindern.

Im zweiten Teil des Romans erzählt Chaurisse ihre Geschichte. Sowie auch die ihrer Mutter Laverne, die mit 14 von James schwanger wird und von ihrer Mutter in die Heirat mit ihm gedrängt wird. Laverne wird dieses Kind verlieren, dennoch bleiben James und sie verheiratet und erst 10 Jahre später kommt dann Chaurisse zur Welt. Mit James und seiner kleinen Familie unter einem Dach lebt sein Bruder Raleigh. Er ist nicht wirklich mit James blutsverwandt, James‘ Mutter hatte ihn als Kleinkind in ihre Obhut genommen und die beiden Jungs zusammen aufgezogen. James und Raleigh sind nicht nur Brüder, sondern auch die besten Freude, jeder würde für den anderen alles tun. So ist es auch Raleigh, der James‘ Bigamie deckt und auf Danas Geburtsurkunde als Vater unterschreibt und der auch die Heiratsurkunde mit Gwen unterzeichnet hat.

Die Beschreibung der Lebensumstände der Protagonisten ist so plastisch, so lebensecht und lebensnah, dass man meint, sie vor sich zu sehen. Die Vorbehalte unter den Farbigen gegenüber den Weißen, die Ängste, unsichtbare Grenzen zu überschreiten, diese Grenzen, die vieles für Farbige unerreichbar machen – all das fängt die Autorin in ihrem Roman ein. Ein gutes Beispiel sind die ständigen, teils obsessiven Bemühungen der Frauen, ihre Haare zu glätten, sei es durch die Haare versengende Glätteisen oder mittels diverser Glättungsmittel. Dieses Streben weg von den typischen krausen Haaren sorgt für Lavernes Lebensunterhalt, denn sie betreibt einen Schönheits- und Frisiersalon.

Tayari Jones ist selbst in Atlanta geboren und lebt auch heute wieder dort. Ihr früherer Roman „In guten wie in schlechten Tagen“ wurde mit Preisen ausgezeichnet, ebenso wie die Übersetzerin Britt Somann-Jung, die auch den vorliegenden Roman ins Deutsche übertrug.

Und natürlich liest man gerade jetzt diesen Roman mit anderen Augen, als man es vielleicht vor einem halben Jahr getan hätte. Vieles, was Jones hier mit lapidaren, nüchternen Worten ohne Klage oder Anklage schildert, ist ja genau heute ein vieldiskutiertes und kontroverses Thema.

Mich hat dieser Roman sehr beeindruckt. Gerade dieser von Larmoyanz und Vorwurf freie Schreibstil, geprägt durch die Tatsache, dass Tayari Jones vieles vermutlich aus eigenem Erleben sehr gut kennt, erhöht die Wirkung umso mehr, bringt die Leserin zu Nachdenken und Nachspüren. Dieses Buch wird noch lange nachhallen, schärft es doch den Blick für viele Aspekte im Leben der Farbigen in den USA.

Tayari Jones: Das zweitbeste Leben.
Arche Literatur Verlag, Juli 2020.
352 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.

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