Tara Westover: Befreit

Tara Westover wurde 1986 in Idaho, USA, auf der Farm ihrer Eltern am Buck Peak geboren. In ihrer Kindheit bekommt sie weder einen Arzt zu Gesicht noch betritt sie jemals ein Klassenzimmer. Die Kinder werden anfangs halbherzig von der Mutter zu Hause unterrichtet, später bleibt ihnen ihre Bildung selbst überlassen. Sie können alles lernen, was sie wollen, wenn sie es sich nur selbst beibringen, nachdem sie ihre Arbeit erledigt haben. Tara arbeitet viel: Sie hilft ihrer Mutter, einer Kräuterfrau, Tinkturen zu mischen und begleitet sie bei Geburten. Sie hilft ihr beim Kochen und Spülen und sortiert schwere Metallteile auf dem Schrottplatz ihres Vaters.

Der Vater besteht darauf, dass sich die Familie auf die Tage des Gräuels vorbereitet, wenn sich die Sonne verdunkeln und eine neue Zeit anbrechen wird, wenn nur diejenigen überleben können, die auf dem rechten Weg sind. Menschen, die bedingungslos auf Gott vertrauen und nach seinen Geboten leben. Menschen, die züchtig und demütig sind und sich vor allem von den Sozialisten und den Illuminaten fernhalten, welche rechtschaffene Leute einer Gehirnwäsche unterziehen, besonders in Schulen und Krankenhäusern. Der Vater regiert mit harter Hand; niemand in der Familie stellt seine Entscheidungen in Frage, selbst wenn sie zu lebensgefährlichen Situationen führen.

Tara weiß schon als Kind, dass ihre Familie anders ist als die anderen mormonischen Familien in der Gegend. Erst Jahre später wird ihr klar, dass ihr Vater an einer bipolaren Störung leidet, dass Phasen mit Verfolgungswahn und Depressionen sich mit manischen Phasen der Selbstüberschätzung abwechseln. Ihre Mutter, an sich eine starke und kluge Frau, schafft es nicht, die Rollenverteilung innerhalb der Familie aufzubrechen – sie versucht es nicht einmal.

Taras Beziehung zu Shawn, ihrem älteren Bruder, ist schwierig. Einerseits bringt er ihr vieles bei, rettet ihr einmal sogar das Leben, andererseits neigt er zur Gewalttätigkeit. Er schikaniert seine jeweiligen Freundinnen – und Tara. Es gibt Zeiten, in denen Tara täglich die Toilette putzt, weil sie weiß, dass Shawn ihren Kopf noch vor dem Mittagessen in die Kloschüssel drücken und behaupten wird, dass sie eine Hure sei. Einmal bricht er ihr auf einem Supermarktparkplatz mutwillig das Handgelenk. Tara glaubt dennoch, sie könne beeinflussen, ob er Grenzen überschreitet. Sie erträgt die Schmerzen, diese sind ohnehin Teil ihres Alltags.

Tyler, ein weiterer Bruder, verlässt die Familie, um aufs College zu gehen. Während Tara auf dem Schrottplatz schuftet und einige Male nur mit viel Glück einem schweren Unfall entgeht, wächst in ihr der Wunsch, es Tyler nachzutun. Sie lernt, kämpft sich durch Algebra, liest, und das Wunder geschieht: Sie schafft die Aufnahmeprüfung. Es ist der Beginn eines völlig anderen Lebens.

Tara hat Mühe, sich in der Welt zurechtzufinden, niemand hat ihr gezeigt, wie man um Hilfe bittet oder systematisch lernt, wie man auf Menschen zugeht und Teil einer Gruppe wird. Sie fühlt sich als Fremdkörper, als eine, die den anderen vortäuscht, jemand zu sein. Immer wieder kehrt sie zum Buck Peak zurück, doch die Kluft zwischen ihren beiden Welten wächst. Sie wird eine brillante Studentin, überzeugt die Professoren von sich, nur sie selbst kann nicht glauben, eine andere zu sein als das Mädchen, das sich auf einem Parkplatz das Handgelenk brechen ließ.

Shawn wütet weiter und wird zu einer Gefahr für seine Frau. Tara beschließt, dass jemand ihn aufhalten muss; es gibt nur einen, der genügend Autorität dafür hat: ihren Vater. Doch der weigert sich zuzugeben, dass Shawn gewalttätig ist. Im Familiengedächtnis sind andere Fakten gespeichert als in Taras Tagebüchern – es waren doch nur harmlose Rangeleien zwischen Geschwistern. Die Auseinandersetzung mit der Familie über die Wahrheit wird für Tara zur Zerreißprobe. Was, wenn alle von Shawns Gewaltausbrüchen wussten und sich entschieden haben, wegzusehen – und jetzt einfach dabei bleiben?

Tara Westover erzählt ihre Lebensgeschichte authentisch und schonungslos, bei Landschaftsbeschreibungen fast poetisch. Es gelingt ihr, glaubwürdig wieder ihre Perspektive als Kind und Teenager einzunehmen, was mit dem Wissen von heute sicherlich nicht einfach ist. Sie zeigt, welche fatalen Auswirkungen die Isolation auf der Farm hat. Tara ist das einzige Mädchen dort, sie hat keine Schulfreunde, überhaupt nur wenige Freunde, die jedoch alle ähnlich fundamentalistisch erzogen werden und die sie zudem nur selten sieht. Ihr fehlen Vergleichsmöglichkeiten, sie glaubt das, was ihr als „Wahrheit“ vorgegeben wird – warum sollte sie das Weltbild ihrer Eltern in Zweifel ziehen? Wem soll sie anvertrauen, dass sie insgeheim lieber keine „weibliche“ Zukunft mit Kindern und einem Ehemann, der sie anleitet, vor sich sähe?

Sie wagt sich hinaus in die Welt, erkennt die Grenzen der Farm am Buck Peak und ihre eigenen. Es braucht Zeit, bis sie lernt, ihre Grenzen zu verschieben, bis sie Bildung als Grundlage für das Weiterdenken, für das Verknüpfen von gelesenen Gedanken zu eigenen, neuartigen Gedanken begreift.

Tara Westover stellt die Bemerkung voran, dass das Buch nicht vom Mormonentum handelt. Und doch ist das Mormonentum mit den traditionellen Rollenbildern von Mann und Frau das, was die Autorin letztlich zum Feminismus führt. Die Erzählung ist ein Lehrstück über den Einfluss der Erziehung auf unser Leben und darüber, welche Macht diejenigen, die wir lieben, über uns haben. Es zeigt die Kraft des Wissens und Denkens und dass eine Rückkehr vom Wissen zur Unwissenheit nicht möglich ist. Das Buch wirkt umso stärker, weil es eine wahre Geschichte aus rekonstruierten Erinnerungen erzählt. Die geschilderten Probleme geben Anlass zum Nachdenken, die Vielschichtigkeit wird auch beim Wiederlesen zu neuen Entdeckungen führen.

Unbedingt lesenswert.

Über die Autorin: 2008 erwarb Tara Westover den Bachelor of Arts an der Brigham Young University. Am Trinity College, Cambridge, machte sie 2009 einen Abschluss als Master of Philosophy und promovierte 2014 in Cambridge in Geschichte. „Befreit“ ist ihr erstes Buch.

Tara Westover: Befreit: Wie Bildung mir die Welt erschloss.
Kiepenheuer&Witsch, September 2018.
448 Seiten, Gebundene Ausgabe, 23,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Ines Niederschuh.

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Ein Kommentar zu “Tara Westover: Befreit

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