Annie Ernaux: Der junge Mann

Annie Ernaux ist bereits mehr als fünfzig Jahre alt und eine angesehene Autorin, als sie Mitte der 90er Jahre eine Beziehung zu einem deutlich jüngeren Mann eingeht. In der Erzählung „Der junge Mann“ beschreibt sie knapp und, wie ich finde, emotionslos die Zeit mit A. und was diese Liaison für sie bedeutete.

Von dem titelgebenden Geliebten erfahre ich außer dem Anfangsbuchstaben des Vornamens wenig. Was Annie Ernaux über ihn schreibt – er ist mittellos, er hat schlechte Manieren, welche Gesten ihr an ihm auffallen – das steht immer im Kontext von Erinnerung an ihre eigene Jugend und Herkunft und sie beschreibt damit eine jüngere Ausgabe ihrer selbst. A. ist ein Abbild der Verhältnisse, denen sie entronnen ist. Von seiner kalten und kargen Wohnung in Rouen, wo sie selbst einst studierte, kann man auf das ehemalige Krankenhaus blicken, in dem sie als junge Studentin nach einer misslungenen Abtreibung eingeliefert wurde. In der Wiederholung kann sie gelassen auf Ereignisse blicken, die sie einst mit Scham erfüllten und die ihr nun verdeutlichen, wie sehr sich ihre Welt gewandelt hat.

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Juli Zeh, Simon Urban: Zwischen Welten

Liebe Theresa, lieber Stefan,

schon bald, nachdem ich mit dem Lesen eurer Korrespondenz begonnen hatte, regte sich in mir das Bedürfnis, mich in euren Austausch einzumischen. Ich meinte vermitteln zu können bzw. zu müssen. Ich sah die Barrikaden auf beiden Seiten und das Ringen darum, sich dem anderen verständlich zu machen. Wahrscheinlich wäre ich genauso gescheitert wir ihr.

Stefan ist Journalist und leitet das Kulturressort einer großen deutschen Wochenzeitschrift mit Sitz in Hamburg. Theresa hat den Hof ihres Vaters übernommen, auf biologische Landwirtschaft umgestellt und kämpft seither zwischen Melkstand, Traktor und Bürokratieumdas wirtschaftliche Überleben. Die beiden kennen sich vom Studium, hatten sich lange aus den Augen verloren und zufällig in Hamburg wieder getroffen.Sie vereinbaren einen Neuanfang.

Der daraus entstehende Austausch per WhatsApp und Mail wird schnell zu einem Streitgespräch über unterschiedliche Vorstellungen und Positionen. Theresa fühlt sich von den Gendersternchen in Stefans Texten provoziert, für ihn hingegen sind Theresas Kühe vor allem Klimakiller. Beide agieren authentisch und ihre Beweggründe sind nachvollziehbar.Im Prinzip wollen sie das Gleiche: Eine gerechte Gesellschaft in einer funktionierenden Demokratie und eine intakte Umwelt.Doch mangelnde Breitschaft, die Welt mit den Augen des anderen zu sehen, führt schnell zu Unterstellungen und Vorwürfen. Ich habe immer den Eindruck, dass sie einander nicht zuhören und aneinander vorbeischreiben.Sie präsentieren Fakten, aber eigentlich geht es um Befindlichkeiten.Ich fand es ermutigend, dass sie trotzdem nicht hingeworfen und nach gemeinsamen Schnittmengen gesucht haben.

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Annabel Wahba: Chamäleon

Ein Chamäleon kann die Farbe wechseln und sich damit an seine Umgebung anpassen. Das Chamäleon in Annabel Wahbamöchte in verschiedene Kulturen eintauchen können, ohne sich ganz aufgeben zu müssen. Die Autorin stammt aus einer deutsch-ägyptischen Familie, ihre bayrische Mutter lernte einst bei einem Ausflug auf der Isar einen jungen Mann aus Kairo kennen und gründete mit ihm eine Familie. Annabel Wahba ist die jüngste der vier Kinder des Paares und sie fühlt sich beiden Kulturen zugehörig. In ihrem Buch „Chamäleon“ lässt sie den Leser an einer spannenden Spurensuche teilhaben.

Anlass für die Aufzeichnungen ist die Krebs-Diagnose ihres Bruders André. Drei Jahre lang führt sie Gespräche mit Familienangehörigen, sichtet Dokumente und trägt eigene Erinnerungen zusammen. Am Sterbebett ihres Bruders erzählt sie ihm und uns die Geschichte ihrer Familie. Die beginnt mütterlicherseits zunächst 1941 in München mit dem Tod des Großvaters, mit einer glücklichen Kindheit auf dem Land, später mit heimlichem Aufbegehren gegen das mütterliche Regime und Erwachsenwerden in New York.

Die ersten Lebensjahre des Vaters in einer Kleinstadt zwischen Kairo und Alexandria zeigen manche Parallele zu denen der Mutter in Deutschland, die Religion und der Zusammenhalt in der Familie sind der Kitt, der Menschen zusammenhält. Das gilt später auch für das junge Paar, welches anfangs in Kairo und später in München sein Auskommen sucht.

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Achim Bogdahn: Unter den Wolken

Zwischen Bremen und Bayern liegen 2929,5 m. Also Höhenmeter. Zugspitze in Bayern minus die Erhebung in Friedehorstpark in Bremen. Ich habe das ausgerechnet und darauf vertraut, dass Achim Bogdahn bei den Höhenangaben richtig recherchiert hat. Nach der Lektüre von „Unter den Wolken“ bin ich mir sicher, dass das Vertrauen gerechtfertigt ist.

Achim Bogdahn fasst 2018, ausgelöst durch eine Zeitungsnotiz über Benno Schmidt, bekannt als Brocken-Benno, den kühnen Entschluss, in jedem der 16 Bundesländer in Begleitung eines ortsansässigen Prominenten den jeweils höchsten Berg zu erklimmen. Um die Challenge noch zu verfeinern, steuert er seine Wanderziele mit öffentlichen Verkehrsmitteln an und erwirbt zu diesem Zweck die Bahncard 100. Zwischen November 18 und Juli 21 reist der Radiomoderator (Bayern 2), dessen Künstlername Achim Sechzig ihn als Fan von 1860 München ausweist, vonMünchen aus zu den abgelegensten Orten, um dort angeregt plaudernd und mehr oder wenigergeradlinig Gipfel zu besteigen. Die dabei gewonnen Erkenntnisse und Erfahrungen können nun in seinem Buch „Unter den Wolken“, verlegt vom Heyne Verlag, nachgelesen werden.

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Mirjam Wittig: An der Grasnarbe

In der Stadt wird Noa von Angstattacken heimgesucht.Wann immer sie in der Öffentlichkeit – in der Bahn, auf Straßen und Plätzen, in öffentlichenGebäuden – auf junge Männer mit arabischem Aussehen trifft, befällt Noa panische Angst, ihrVorstellungsvermögen produziert Bilder von Explosionen und Toten und sie verlässt den Ort. Dabei belastet sie nicht nur dieirrationale Körperreaktion, sondern auch die üble Unterstellung gegenüber denen, die die Panikattackendurch bloße Abwesenheit auslösen. Um dem allen zu entfliehen, nimmt sie eine Stelle als Helferin aufeinem Bauernhof in den französischen Alpen an.

Die Hofeigentümer Ella und Gregor haben vor etlichen Jahren Deutschland verlassen, um in

Frankreich ein neues Leben zu beginnen. Doch die Arbeit wächst den beiden zunehmend über denKopf, Helfer sind immer willkommen. In den nächsten Tagen und Wochen lernt Noa Schafe zu hüten,sie pflanzt Setzlinge, geizt Tomaten aus, hilft beim Ernten und beim Einkochen. Sie gewinnt dasVertrauen von Jade, der 11jährigen Tochter von Ella und Gregor.Doch auch hier überkommen sie immer wieder irrationale Ängste und das Gefühl, einer Situation hilflos ausgeliefert zu sein.

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Robert Menasse: Die Erweiterung

Bei meinem letzten Besuch in Wien habe ich eine Sehenswürdigkeit verpasst. Dort gibt es im Kunsthistorischen Museum einen besonderesAusstellungsstück zu bestaunen – den Helm des Skanderbeg. Das auffälligste Element an diesem aus Weißgold gefertigten und mit einem vergoldeten Kupferband und goldenen Rosetten verzierten Helm ist ein auf dem Scheitel aufsitzender gehörnter Ziegenkopf aus vergoldeter Bronze.Diese Figur gilt als Herrschaftssymbol und der Träger des Helmes, Gjergj Kastrioti Skanderbeg, war ein albanischer Fürst, dem es im 15 Jhdt. gelang, die albanischen Fürstentümer gegen die Osmanen zu vereinen. Unter seiner Führung konnten in den nächsten 25 Jahren bzw. bis zum Tode des Fürsten, die Heere des Osmanischen Reiches immer wieder zurückgedrängt werden. Skanderbeg ist der Nationalheld der Albaner.

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Nadja Niemeyer: Gegenangriff

Stelle Sie sich vor, der übelste Schädling auf der Erde würde kurzerhand ausgerottet. Nicht schlecht, oder? Dumm nur, dass wir Menschen nicht wirklich Freude daran hätten, denn besagter Schädling ist kein anderer als Homo sapiens.

Nachdem im Januar 2034 ein intelligenzförderndes Virus, in einem Labor gezüchtet und durch sorglosen Umgang nach draußen gelangt, der Tierwelt zu erstaunlichen Fähigkeiten verhilft, nimmt der Untergang der Menschheit seinen Lauf. Die nun klugen Tiere erkennen bald, welche Schäden die Menschen auf dem Planeten angerichtet haben und beschließen aus Gründen des Naturschutzes, dem üblen Treiben ein Ende zu bereiten. Sie starten einen Gegenangriff.

Es gibt schon bald erste Anzeichen:Ein Video mit zwei Katzen, die erstaunliche Fähigkeiten zeigen, geht um die Welt, die Kühe eines Biobauernhofes töten zuerst ihren Bauern und ziehen dann geschlossen zum Schlachthof. In der Folge häufen sich verwirrende und erschreckende Beobachtungen von Tieren und ihren Aktionen. Doch die Menschen übersehen das Offensichtliche und keinerahnt, dass damit die Ausrottung der Spezies homo sapiens beginnt. Weiterlesen

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Goliarda Sapienza: Die Kunst der Freude

Der Blick der jungen Frau auf dem Buchumschlag ist schwer zu deuten. Ich sehe Entschlossenheit ebenso wie Nachdenklichkeit, wohl auch eine Spur von Resignation. Das Foto zeigt die italienische Autorin Goliarda Sapienza, deren Bücher zu Unrecht in Vergessenheit geraten waren. Sie stammt aus Catania auf Sizilien und war als Theaterschauspielerin und Drehbuchautorin berühmt, bevor sie sich dem Schreiben widmete. Ihr Hauptwerk L’arte della gioia – Die Kunst der Freude – jedoch blieb zu ihren Lebzeiten unveröffentlicht. Die Lebensgeschichte von Modesta, einer Frau, die selbstbestimmt handelt, Männer und Frauen liebt und die Suche nach persönlichem Glück und Selbsterkenntnis über alles stellt, fand keinen Verleger. Erst der Umweg über Deutschland und Frankreich brachte dem Buch die verdiente Anerkennung.

Goliarda Sapienza hat in ihrem Roman vielmals eigenes Erleben verarbeitet. Auch Modesta wächst in Sizilien auf und verbringt einen großen Teil ihres Lebens in bzw. in der Nähe von Catania. Goliardas Eltern waren linke Intellektuelle und ihre Mutter gehörte zu den ersten Frauenrechtlerinnen Italiens. Das harmonische Zusammenleben der Patchwork-Großfamilie mit Modesta als Familienoberhaupt fand sein Vorbild sicher auch in Goliarda Sapienzas Kindheit inmitten ihrer Stiefgeschwister. Weiterlesen

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Virginia Woolf: Mrs Dalloway (1925)

London im Juni 1923. Mrs. Clarissa Dalloway, die Gattin des Parlamentsabgeordneten Richard Dalloway, bereitet sich und das Haus auf einen ihrer beliebten Gesellschaftsabende vor. Einkäufe müssen getätigt und dem Hauspersonal letzte Anweisungen erteilt werden. Während sie am Nachmittag dann noch ihr Kleid ausbessert, erscheint überraschend Besuch: Peter Walsh, ihre erste Liebe, dem sie später allerdings den deutlich solideren Richard Dalloway vorgezogen hatte, ist aus Indien zurückgekehrt und wartet ihr mit seinem Besuch auf.

Gleichzeitig streift der Kriegsheimkehrer Septimus Warren Smith, begleitet von seiner italienischen Ehefrau Lucrezia, durch die Stadt, auf der Suche nach Hilfe gegen seine Ängste und gegen das Gefühl der Empfindungslosigkeit.

Die äußere Handlung ist auf wenige (scheinbar) alltägliche Ereignisse an ebendiesem Junitag 1923 reduziert, das Voranschreiten der Zeit wird durch das Leuten von Big Ben verdeutlicht, dessen viertelstündlicher Glockenschlag zugleich dem Roman, der im Übrigen ohne Kapitel auskommt,  Struktur verleiht. Weiterlesen

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Amélie Nothomb: Ambivalenz

Dominique lernt Claude auf der Terrasse ihres Lieblingscafés kennen. Er spricht sie an und lädt sie auf eine Flasche Champagner ein. Sie ist verunsichert und misstrauisch, als er ihr versichert, sie sei die Frau, nach der er schon immer gesucht habe. Ihr Misstrauen bleibt, ihre Eltern hingegen sind verzückt über den charmanten jungen Mann mit besten Manieren, der sich zudem als erfolgreicher Firmengründer vorstellt. Schließlich willigt sie gegen ihr Bauchgefühl in die Verbindung ein.

Das junge Paar zieht nach Paris. Dort entwickeln sich Claude Geschäfte prächtig und doch will sich das Eheglück nicht so recht einstellen. Claude erweist sich als launisch und unberechenbar. Nach der Geburt des ersehnten Kindes bleibt sein Verhalten rätselhaft.

Am Ende schließt sich der Bogen in mehrfach überraschender Weise, aber das wird hier nicht verraten. Weiterlesen

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