Ben Smith: Dahinter das offene Meer

Schon nach den ersten Zeilen wusste ich, woran mich der Roman erinnerte:  „Die Straße“ von Cormac McCarthy. Ich schrieb damals (2007): „Gäbe es einen Oscar für die düstersten Endzeit – Geschichten, Cormac McCarthy hätte bisher nicht nur einen geschnappt. Dieses Drama, im wahrsten Sinne des Wortes, ist ein Kammerspiel, welches dermaßen unter die Haut geht, dass man jederzeit anfängt zu frieren, wenn man an das Buch denkt“. In „Die Straße“ geht es um einen Vater mit seinem Sohn, der in einer, von was auch immer, verlorenen Welt, ihren Weg gehen. Und schließlich ankommen an einem finsteren Strand, am offenen Meer.  Und im vorliegendem Roman haben wir ein ähnliches Ausgangsszenario: man weiß nie wirklich was mit der Welt gelaufen ist, ob es der Klimawandel oder eine sonstige weitere Verrohung der Menschheit war, was die beiden Protagonisten zwingt, in diesem dystopischen System von tausenden, kaum noch funktionierenden Windrädern, ihren Job zu machen.

Es spielen mit: „der Alte“ und „der Junge“. In diesem gigantischen Offshore Windpark haben sie die Aufgabe, die Systeme, bzw. die Rotoren und Maschinen zu  warten. Man erfährt allerdings nie, für wen der Strom noch produziert wird. Es ist ein jahrelanges Drama, im Roman zwei Mal unterbrochen von einem surrealen „Versorgungsschiff“, welches in nicht zu bemessenden Abständen Lebensmittelkonserven bringt, wobei der Schiffsführer gleichzeitig einen ominösen Handel mit technischen –  oder sonstigen Abfallprodukten aus dem Windpark, betreibt. Weiterlesen

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Daniel Mellem: Die Erfindung des Countdowns

Ein sehr interessantes und lehrreiches Buch. Es ist die teils wahre, teils fiktive Biographie eines besessenen Tüftlers und spät anerkannten Physikers. Sein Name ist Hermann Oberth, der mir allerdings vorher noch nie untergekommen ist. Ich bin aber, ehrlicherweise, auch nie tief in die frühe Antriebs- und Raketentechnik eingetaucht, und – später auch nicht. Was aber in dem Roman über Hermann Oberth wohl herauskommt, ist ein Abriss des 20 Jahrhunderts. In Zeitgeschichte und  Wissenschaft. Wir wissen alle, was für gigantische Erkenntnisse und Theorien, sowie Entdeckungen und nicht zuletzt zwei Weltkriege und der Holocaust dieses Jahrhundert überstrahlen und meist beschatten.

Am Beispiel von Hermann Oberth werden wir durch diese Dramatik geführt und lernen dabei viel. Man muss auch kein großartiges Licht in Physik sein um zu verstehen, dass es Raketen auf Grund ihrer Schwere immer schwer haben werden die Erdgravitation zu verlassen. Das ist die Crux mit der sich Oberth sein Leben lang beschäftigt obwohl er früh die richtigen Ideen hatte. Zum Beispiel, Raketen ins All zu schießen und nacheinander die Stufen zu zünden. Egal. Um die Erdanziehungskraft zu verlassen braucht man umso mehr Energie je schwerer das Raumschiff ist. Weiterlesen

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Charlotte McConaghy: Zugvögel

Am Ende war ich doch insgesamt enttäuscht. Denn alles fing relativ spannend an. Eine Frau erzählt die Geschichte ihres dramatischen Lebens. Aber im Laufe des recht umfangreichen Romans, stellte sich bei mir eine gewisse Langeweile ein, aber fangen wir mal vorne an. Zum Backround: wir befinden uns in einer Zeit, bei der auf der Erde auf Grund des Klimawandels, des Plastikmeeres und des Artensterbens, quasi nur noch der gierige Mensch herumtappert. Es geht also um die Zeit nach dem alles „gekippt“ ist, also alles unumkehrbar ausgerottet ist, was so auf der Welt mal kreuchte und fleuchte. So gut wie keine Fische -, keine wilden Tiere und (fast) keine Vögel mehr  Eine Science Fiction Dystopie wie sie im Buche steht. (!) Raten wir mal, dass es sich um das Jahr 2070 handeln muss, oder etwas später. In dieser Endzeit lebt also Franny, bzw. wächst auf als eine Art Mischung aus Pippi Langstrumpf und Arielle der kleinen Meerjungfrau. Später dann eher als eine weibliche Form des Neptuns, wütend und unberechenbar! Franny hat schon als Kind eine intensivste Beziehung zu allem was lebt – und stirbt fast, wenn sie ein totes Tier sieht, vor allem wenn es ein Vogel ist. Weiterlesen

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Minna Rytisalo: Lempi, das heißt Liebe

Mal unter uns, wer wusste über diesen Teil des Zweiten Weltkriegs Bescheid, dass die Sowjetunion in den vierziger Jahren Finnland annektieren wollte und die Finnen wiederum sich hilfesuchend an die Waffenbrüder des Nazideutschlands gewandt haben, um ihre Unabhängigkeit zu behalten, was ja, und das lag ja in der Natur des Nazi Verbrecher- und Mordregimes, a priori nicht möglich ist. (Also ich sag mal so, bei Jauch wäre ich früh gescheitert). Das als Hintergrundinfo zu einer bewegenden Geschichte, bzw. drei verschiedenen Geschichten, bei denen es allerdings immer um die gleiche Frau geht – die wiederum aber nicht zu Wort kommt. Als erster spricht Viljami zu uns, ein einfacher finnischer Bauernsohn, der, und er kann sein Glück nicht wirklich fassen, Lempi zur Frau bekommt, weil SIE das so wollte.

Lempi ist klug reizvoll und eigentlich „zu höherem“ berufen, als zu einer biederen Farmersfrau. Aber die beiden heiraten tatsächlich, haben ein schönes Jahr zusammen, dann muss Viljami an die Front. Er schildert vor allem seine Rückkehr drastisch und unendlich niedergeschlagen; vom Verlust seiner selbst und vor allem, vom Verlust seiner Frau Lempi. Weiterlesen

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Thilo Krause: Elbwärts

Also, ich sage es mal ganz vorsichtig: man könnte vermuten, ich hoffe, ich liege vollkommen falsch, der Autor und Ich Erzähler Thilo Krause hat oder hatte eine schwere Zeit hinter sich, so in Richtung Melancholie und Depression, und seine in Anspruch genommene psychotherapeutische Begleitung hat ihm geraten, alles mal aufzuschreiben. Da war das Ganze wohl noch nicht als Roman gedacht, aber es entpuppte sich nach und nach als Möglichkeit, sich von seinem traumatischen Ballast zu befreien. Ich meine, das Buch bei aller romantischer Naturnähe, zieht einen doch ziemlich runter.

Es ist die Geschichte zweier Jugendfreunde, die in der DDR aufgewachsen sind, und zwar in der Nähe des Elbsandsteingebirges im südlichen Sachsen an der Grenze zu Nordböhmen, also der damaligen Tschechoslowakei mit der Elbe als Grenzfluss! Diese bizarren Felsformationen waren für Vito und dem Erzähler – er bleibt immer ohne Namen – das geheimnisvolle Rückzugsgebiet. Auch von der Schule und den Jungen Pionieren, und all dem Scheiß. Hier atmeten sie tief die Freiheit ein, die Natur, die Wolken, geheimnisvolle Baumkronen und Wipfel und eben die Steine und Felsen. Sie krochen durch Spalten und Kamine und fanden Plätze und Höhlen, die vor ihnen wahrscheinlich nie jemand betreten hat.

Bei einem dieser Abenteuer gibt es beim Klettern ein Unglück und Vito verliert nach seinem Absturz ein Bein, bzw. es bleibt nur noch ein Stumpf nach verpfuschter OP. Weiterlesen

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Heinrich Steinfest: Der Chauffeur

Heinrich Steinfest ist ein von mir hochverehrter, moderner Märchenerzähler. Seine Ideen und Romaninhalte sind bisweilen von absurder Unwahrscheinlichkeit, die aber durch seinen launischen, aber immer hoch unterhaltsamen Erzählstil, ganz plausibel erscheinen. So auch in seinem neuen Werk mit einem Chauffeur, der auf Grund eines tragischen Ereignisses, seinen eigentlich sehr gemochten Job (fährt gern in einem Audi der Extraklasse einen ambitionierten Politiker und Kanzlerkandidaten durch die Lande) eben diesen aufgeben muss. Auf Grund einer falschen, schrecklichen Entscheidung nach einem schrecklichen Unfall. Es sind immer diese bizarren Ereignisse, quasi vorbestimmte Zufälle – die es folglich nicht gibt, weil vorbestimmt – die dem Leben immer eine Wendung geben, die sich Paul Klee, ja so heißt er wirklich, nie hätte träumen lassen. „Zufällig“ trifft er Inoue, die ihm als Maklerin ein Haus zeigt, in dem er fortan seine Vorstellung von der Führung und Gestaltung eines Hotels, realisieren möchte. Inoue, welch eine schicksalhafte Begegnung (einmal mehr), wird zur geliebten Frau und Geschäftspartnerin im „Hotel zur kleinen Nacht“. Weiterlesen

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Benjamin Myers: Offene See

Dies ist ein Tipp des  Buchhändlers meines Vertrauens. Er hat sich bei mir selten geirrt. Bei „Offene See“ war ich anfangs nicht so sicher, vielleicht lag es daran, dass uns momentan so viel quält, eben die Corona Auswüchse in allen Bereichen des Lebens. Aber nach und nach, und das ist das Gute bei der Literatur, vergisst man zeitweise über die Lektüre den ganzen Scheiß um sich herum. Es ist die Geschichte (als Ich-Erzählung) des Robert Appleyard, der sich 1946 auf den Weg macht. Ich betone „auf den Weg macht“! Denn darum geht’s: er verlässt nach den traumatisierenden Kriegsjahren als 16 Jähriger sein Elternhaus in Nordengland, die Gegend der Schlote und Kohlereviere – weil  Robert eben (noch) keine Lust hat  auf den Schacht, wie vorher sein Vater, etc.. Er wandert seiner Nase nach und erreicht irgendwann das Meer. Unterwegs lebt er als Tagelöhner, Erntehelfer, Zimmermann, eben alles was so kommt.

Eines Tages folgt er einem Pfad, der immer dichter und undurchdringlicher wird und doch liegt überraschenderweise am Ende des Weges ein Häuschen. Dulcie lebt hier, doppelt so alt wie Robert und wie sich nach und nach herausstellt, über alle Maßen klug und unkonventionell. Weiterlesen

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Lilja Sigurðardóttir: Das Netz

Island in Zeiten der Finanzkrise. Dieses Land war sich zu lange sicher in allem, was man so als Bild in der Welt abgab. Thermische Verhältnisse machten die Insel zwischen Amerika und Europa energietechnisch unabhängig und die wilde unberührte Natur lockte jede Menge Touristen an. Hätte alles  gut so weiter gehen können, doch auch in Reykjavik war auf einmal die Gier angesagt. Die Banken verspekulierten sich in dieser unsäglichen Derivaten-  und Spekulationsblase, so dass das Land pleite war.  Nach und nach geht es an die Aufarbeitung und die Suche nach der Schuld.

Arga, eine der Protagonistinnen in diesem  Roman, war eine große Nummer im Bankengewese und hat kräftig mitgemischt und sitzt nun während des ganzen Buches immer in irgendwelchen Verhören. Damit kommt sie klar, sie war und ist in diesen Dingen eiskalt. Womit sie nicht klar kommt, ist die Beziehung zu Sonja, mit der sie im Bett von Sonjas Ehemann Adam und Sohn Tomas erwischt wird. Sonjas Ehe scheitert daraufhin und Sonja hält sich nun mit Drogenkuriergeschäften über Wasser, bzw. sie will das solange machen, bis sie wieder Boden den Füssen hat und ihren Sohn Tomas „zurückholen“ kann. Weiterlesen

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Regina Scheer: Gott wohnt im Wedding

Die Idee könnte aus einem Kinderbuch stammen: ein Haus erzählt seine Geschichte. Berliner Gründerzeit, um 1890, Wedding! Da wurde dieses, damals prachtvolle Haus erbaut. Heute verdammt in die Jahre gekommen und nahezu abbruchreif. Allerdings hat es die Kriege überlebt, aber so wie es aussieht, wohl nicht mehr das heutige Spekulantentum.

Es gibt drei Haupterzählstränge: die von Getrud, Leo und Leila. Gertrud, hoch in den Neunzigern, Leo ebenso und Leila die noch mitten im Berliner Alltagsdurcheinander lebt, ausgerechnet als Sozialarbeiterin. (so eine Art Quartiersmanagerin im Neusprech) Gertrud hat seit Jahrzehnten das Haus nicht mehr verlassen, Leo ist aus Israel angereist und Leila, die gar nicht weiß, dass einst ihre Sintifamilie hier gelebt hat.  Diese drei tragen die Hauptlast der Geschichten, die von großer, profunder Kenntnis sind! Von der Judenverfolgung, der Sinti und Roma Verjagungen aus und in ganz Europa, des Naziterrors, und der langsamen Inanspruchnahme des Hauses durch alle möglichen Ethnien, zuerst der Wolga- und Russlanddeutschen und heute das prekäre Leben bulgarischer und/oder rumänischer Großfamilien beherbergt. Weiterlesen

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Sorj Chalandon: Am Tag davor

Ein bisschen „Spiel mir das Lied vom Tod“ finde ich hier. Nach 40 Jahren in die Stadt des vermeintlich größten Unglücks seines Lebens – dem Tod des geliebten Bruders – zurückkommen und sich an dem Schuldigen rächen. Michels (16)  vierzehn Jahre älterer Bruder Joseph (Jojo) war Bergmann und im Hirn des jungen Michel hat sich ein Gespinst festgesetzt: am Tag des Unglücks, hervorgerufen durch eine schlampige, nur gewinnorientierte Bergwerksleitung, bei dem 42 Kumpel am 27.Dezember 1974, durch eine Schlagwetterexplosion umkamen, hatte Michel als Fahrer des Mopeds, auf dem hinten sein Bruder Joseph saß, glatteisbedingt einen Unfall.

Jojo hatte also das zweifelhafte Glück, nicht im Berg gewesen zu sein als die Explosion geschah, sondern am gleichen Morgen auf der Straße zu verunglücken und erst 22 Tage später im Krankenhaus zu sterben. Trotzdem macht sich im Kopf von Michel die Schuldfrage breit, von der er sein Leben lang nicht mehr los kommt. Die Profitgier der Werksleitung war schuld, personifiziert durch den damaligen Schichtführer, den Michel dann nach 40 Jahren gebeutelten Lebens endlich aufsucht. Weiterlesen

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