„Wahre Geschichten aus meiner Kindheit“ erzählt Maryse Condé in diesem Buch – und die sind so berührend wie unterhaltsam, so verstörend wie komisch. Das pure Leben. Zu Beginn erlauben die Eltern ihrer jüngsten Tochter Maryse – einer Nachzüglerin, die lange nach ihren sieben Geschwistern geboren ist – nur wenige selbständige Blicke über den Tellerrand. Einzig in der näheren Umgebung darf sie sich alleine bewegen, zur Vorschule gibt es für die ganze Kinderschar aus dem Viertel Begleitung durch ein Dienstmädchen. Aber das muss sorgfältig ausgewählt werden: Nicht zu übermütig soll es sein und nicht zu jung und Unterhaltungen mit Kavalieren an Straßenecken sind ebenfalls nicht gern gesehen.
Mit wem man selbst – und auch die Bediensteten – Umgang pflegt, ist wichtig. Schließlich gehören die Condés zur Oberschicht in Guadeloupe, wenn auch zur schwarzen. Die Mutter und der Vater haben sich hochgearbeitet und sind stolz auf ihre Leistung. Am liebsten würden sie in Frankreich leben. Was anderen eine verhasste Kolonialmacht ist, ist ihnen ein Traumland, das sie regelmäßig besuchen. Selbst 1946, kurz nach dem zweiten Weltkrieg, reisen sie mit ihrer kleinen Tochter dorthin und erleben den alltäglichen Rassismus, der scheinbar an ihnen abperlt, Maryse aber bestürzt. Nachdem ein Kellner sie für ihr gutes Französisch gelobt hat, weil er sie für Ausländer hält (oder einfach für ungebildet), entwickelt sich folgender Dialog: „‚Wir sind aber doch genauso Franzosen wie sie‘, seufzte mein Vater. ‚Französischer‘, trumpfte meine Mutter heftig auf. Zur Erklärung fügte sie hinzu: ‚Wir sind gebildeter. Wir haben bessere Manieren. Wir lesen mehr. Manche von ihnen sind nie aus Paris hinausgekommen, während wir den Mont-Saint-Michel, die Côte d’Azur und die Baskenküste kennen.‘“ (Kapitel „Familienporträt“, Seite 13) Weiterlesen