Maryse Condé: Mein Lachen und Weinen: Wahre Geschichten aus meiner Kindheit

„Wahre Geschichten aus meiner Kindheit“ erzählt Maryse Condé in diesem Buch – und die sind so berührend wie unterhaltsam, so verstörend wie komisch. Das pure Leben. Zu Beginn erlauben die Eltern ihrer jüngsten Tochter Maryse – einer Nachzüglerin, die lange nach ihren sieben Geschwistern geboren ist – nur wenige selbständige Blicke über den Tellerrand. Einzig in der näheren Umgebung darf sie sich alleine bewegen, zur Vorschule gibt es für die ganze Kinderschar aus dem Viertel Begleitung durch ein Dienstmädchen. Aber das muss sorgfältig ausgewählt werden: Nicht zu übermütig soll es sein und nicht zu jung und Unterhaltungen mit Kavalieren an Straßenecken sind ebenfalls nicht gern gesehen.

Mit wem man selbst – und auch die Bediensteten – Umgang pflegt, ist wichtig. Schließlich gehören die Condés zur Oberschicht in Guadeloupe, wenn auch zur schwarzen. Die Mutter und der Vater haben sich hochgearbeitet und sind stolz auf ihre Leistung. Am liebsten würden sie in Frankreich leben. Was anderen eine verhasste Kolonialmacht ist, ist ihnen ein Traumland, das sie regelmäßig besuchen. Selbst 1946, kurz nach dem zweiten Weltkrieg, reisen sie mit ihrer kleinen Tochter dorthin und erleben den alltäglichen Rassismus, der scheinbar an ihnen abperlt, Maryse aber bestürzt. Nachdem ein Kellner sie für ihr gutes Französisch gelobt hat, weil er sie für Ausländer hält (oder einfach für ungebildet), entwickelt sich folgender Dialog: „‚Wir sind aber doch genauso Franzosen wie sie‘, seufzte mein Vater. ‚Französischer‘, trumpfte meine Mutter heftig auf. Zur Erklärung fügte sie hinzu: ‚Wir sind gebildeter. Wir haben bessere Manieren. Wir lesen mehr. Manche von ihnen sind nie aus Paris hinausgekommen, während wir den Mont-Saint-Michel, die Côte d’Azur und die Baskenküste kennen.‘“ (Kapitel „Familienporträt“, Seite 13) Weiterlesen

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Brit Bennett: Die verschwindende Hälfte

Die Zwillinge Stella und Desiree Vignes wachsen in Mallard auf, einem kleinen Ort in Louisiana, in dem die (ursprünglich dunkelhäutigen) Bewohner das Ziel haben, möglichst hellhäutig zu werden. Bei Desiree und Stella ist das bereits gelungen. Mit sechzehn kehren die beiden ihrem Heimatdorf den Rücken. Es hat ihnen nicht das zu bieten, was sie vom Leben wollen. Heimlich machen Sie sich auf den Weg nach New Orleans, wo sie sich mit verschiedenen Jobs über Wasser halten. Eine Rückkehr nach Mallard kommt für beide zu diesem Zeitpunkt nicht in Frage.

Obwohl die Initiative zum Aufbruch in die Stadt von Desiree ausgegangen ist, die schon immer schlagfertiger, frecher und aktiver war, ist es Stella, die eine günstige Gelegenheit ergreift, sich – sozusagen „undercover“ – auf die Seite der Weißen zu schlagen und sich von ihrem schwarzen Erbe abzuwenden. Sie verschwindet, ohne Desiree eine Nachricht zu hinterlassen. Jede Spurensuche ihrer verzweifelten Schwester führt ins Leere.

Desiree nimmt eine Stelle beim FBI an und wird Expertin für Fingerabdrücke. Sie findet im dunkelhäutigen Staatsanwalt Sam einen Mann, mit dem sie leben möchte und bekommt mit ihm eine Tochter: Jude. Doch die Ehe wird nicht glücklich, Sam beginnt, seine Frau zu schlagen. Einige Jahre nach ihrem Verschwinden wird Desiree mit einem kleinen Mädchen in Mallard gesichtet, dessen Existenz der Philosophie der Einwohner entgegensteht. Noch Jahre später erinnert sich Lou, der Betreiber des Diners, an seinen ersten Eindruck von dem Kind: „Blauschwarz“, sagte er. „Wie frisch aus Afrika eingeflogen.“ (Teil 1: Die verlorenen Zwillinge, Kapitel 1) Weiterlesen

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Maria Regina Kaiser: Selma Lagerlöf. Die Liebe und der Traum vom Fliegen

Die meisten Menschen denken wohl zuerst an den Winzling Nils Holgersson und seine wunderbare Reise mit den Wildgänsen durch Schweden, wenn sie den Namen Selma Lagerlöf hören. Doch die Autorin war eine außergewöhnliche, mutige Persönlichkeit und hat noch weitaus mehr zu bieten. Geradlinig und fleißig verfolgte sie ihren Plan, eine bekannte Schriftstellerin zu werden und wurde als erste Frau mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet. Sie engagierte sich für Frauen und deren Wahlrecht und setzte sich für die Flucht von Juden aus Deutschland während der NS-Zeit ein.

Den Grundstein für ihren Erfolg legten ihre Eltern, in Bezug auf das Schreiben vor allem der Vater, ein (ehemaliger) Leutnant, dessen heimliche Liebe der Literatur galt. Sie ermöglichten ihren Söhnen und Töchtern die bestmögliche Bildung, die sie sich leisten konnten (und manchmal auch mehr), was im 19. Jahrhundert auf dem Land in Schweden sicher nicht selbstverständlich war. Selma nahm diese Möglichkeit dankbar an. Wegen einer Gehbehinderung konnte sie als Kind oft nicht bei den Spielen der anderen mitmachen und wandte sich den Büchern zu, die sie in andere Welten brachten. Schon als Jugendliche verfasste sie Gedichte und Theaterstücke, die im Familien- und Bekanntenkreis aufgeführt wurden. Weiterlesen

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Elisabeth Raabe (Hrsg.): Der Literatur Kalender 2021: Momente der Hoffnung

Hoffnung – wer braucht sie nicht? Gründe, zu hoffen gibt es unzählige, „kleine“ und „große“.

Wir hoffen, dass wir und alle, die uns nahestehen, gesund bleiben oder werden und dass wir es schaffen, die Armut auf der Welt zu besiegen. Wir hoffen auf die Rettung des Klimas oder dass diese Pandemie vorübergeht. Und manchmal hoffe ich einfach nur darauf, dass das leckere Essen nicht gleich auf der Waage anschlägt.

Hoffnungen sind oft Wünsche oder Ziele. Manchmal kann man wirklich nichts weiter für die Erfüllung tun, als zu hoffen, oft kann die Hoffnung aber Motivation sein, selbst aktiv zu werden. Der Literaturkalender „Momente der Hoffnung“ versammelt Texte und Bilder aus der Weltliteratur, die sich genau diesen Themen widmen.

So schrieb die afroamerikanische Autorin Zora Neale Hurston in ihrer Autobiografie: „Mein Wunsch, wieder zur Schule zu gehen, war nie verstummt … Entschlossen ergriff ich die einzige Waffe, die ich besaß – Hoffnung –, und nahm die Beine in die Hand. Vielleicht würde von nun an alles gut werden. Vielleicht. Und so zog ich denn meine Schuhe an und machte mich auf den Weg.“ (Januar) Weiterlesen

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Duden: Kleines Kuriositätenkabinett der deutschen Sprache

Wie heißt das im Jahr 2004 vom Deutschen Sprachrat gekürte schönste deutsche Wort und welche schönen Wörter gelten als vom Aussterben bedroht? Auf welche Arten kann man „Konifere“ falsch schreiben? Welche Wörter sind aus dem Deutschen in andere Sprachen eingewandert und welche haben hier einen „Migrationshintergrund“? Wissen Sie, dass es im Rechtschreibduden nur fünf einsilbige deutsche Wörter gibt, die auf -nf enden, oder welche Buchstaben im Deutschen, Italienischen, Französischen, Italienischen und Spanischen am häufigsten vorkommen?

Mit Fragen wie diesen beschäftigt sich das kleine Kuriositätenkabinett der deutschen Sprache. Denn es bleibt nicht bei der deutschen Sprache stehen, sondern macht auch Abstecher zu Nachbarn oder weiter entfernten Verwandten, zum Beispiel, wenn es darum geht, welche Sprachen von den meisten oder nur von sehr wenigen Menschen gesprochen werden.

Nebenbei wird (immer mit vielen witzigen Beispielen) erklärt, was ein Anagramm, ein Palindrom oder ein Eponym ist. Was haben der Rentner, das Regal und der Reliefpfeiler gemeinsam? Nicht nur das R am Anfang … Weiterlesen

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Sibylle Lewitscharoff & Heiko Michael Hartmann: Warten auf

Unverhofft findet sich Gertrud Severin im Jenseits wieder – das vermutet sie jedenfalls, denn wer weiß schon, wie es dort aussieht. Die 52-Jährige ist verwirrt. Sie hat keine Ahnung, wie sie hierhergekommen ist. Zwar fühlt sie sich etwas seltsam, aber sie weiß noch, wie sie heißt, wo sie herkommt und kann sich an einiges aus ihrer Vergangenheit erinnern. Ihr Körper ist verschwunden, ihre Stimme funktioniert allerdings noch und nervt ihren Nachbarn, der sich schon mit seinem Tod abgefunden hat. „Lassen Sie mich in Ruhe. Ich bin tot! Gestorben! Jetzt grade.“ (Seite 9)

Doch da sie nur zu zweit in dieser seltsamen Zwischenwelt festhängen (und Gertrud sich schon immer gerne unterhalten hat), kommen die beiden ins Gespräch. Gemeinsamkeiten finden sie nur wenige. Verständnis und Unverständnis wechseln sich ab, auf Annäherung folgen Meinungsverschiedenheiten, Widerspruch ist angesagt.

Kein Wunder. Während Gertrud ein geselliger Mensch war, Kunst und Kultur mit allen Sinnen genossen hat und auch jetzt noch an den christlichen Gott und seine Gerechtigkeit glaubt, weiß der eigenbrötlerische, namenlose Herr neben ihr kaum mehr, wer er war (oder ist). „Sie scheinen geradezu das Gegenteil von mir zu sein. Ich bin purer Gedanke, befreit von mir selbst weiß ich nichts von mir außer dem, was ich gerade denke.“ (Seite 10) Weiterlesen

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Rebecca Solnit: Unziemliches Verhalten: Wie ich Feministin wurde

Rebecca Solnit ist eine der bedeutendsten Essayistinnen in den USA. Zum Glück werden ihre Texte auch nach und nach in Deutschland entdeckt. Ich bin durch ihr Buch „Wanderlust: Eine Geschichte des Gehens“ auf sie aufmerksam geworden und war von ihrer feministischen Essay-Sammlung „Wenn Männer mir die Welt erklären“ schwer beeindruckt.

Nun erzählt sie in „Unziemliches Verhalten“, wie sie Feministin wurde. Und das macht sie auf ihre ganz eigene, unnachahmliche Weise, indem sie nicht nur ihre Geschichte erzählt, sondern ihre Erlebnisse, ihr eigenes Verhalten und ihre Gefühle in einen größeren Zusammenhang stellt. So verleiht sie Frauen, die nicht oder kaum wahrgenommen werden, eine Stimme.

Anfang der 1980er-Jahre zieht die junge Rebecca nach San Francisco, um zu studieren und ihrem Elternhaus zu entfliehen. Sie findet eine kleine Wohnung, die für viele Jahre ihr Zuhause wird. Sie erzählt von ihrer anfänglichen Armut, von ihrer Sehnsucht nach der Weite des Meeres und der Natur, von ihrer Suche nach sich selbst und dem Leben, das sie leben will, aber auch von ihrem bunten Viertel und seinen Bewohner*innen. Selbst wenn sie schon seit Jahren sicher ist, dass sie Autorin werden möchte, fehlt ihr zunächst die Orientierung: „Ich hatte keine klare Vorstellung davon, wo ich hinwollte, aber ich wusste, dass es möglichst fern von da sein sollte, wo ich herkam.“ (Kapitel „Nebelhorn und Gospel“/3) Weiterlesen

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Hanne Ørstavik: Milano

Val und Paolo lernen sich in Oslo bei einer Ausstellung kennen, in der Val zum ersten Mal ihre Zeichnungen der Öffentlichkeit präsentiert. Die junge Norwegerin hat zwar Architektur studiert, aber alles, was sie tun möchte, ist zeichnen. Paolo spricht sie an. Er hat etwas in Vals Bildern gesehen, das ihn berührt, das ihn die Kunst mit anderen Augen sehen lässt und das ihn neugierig auf die Künstlerin macht. In seinem Beruf als Kurator einer großen Galerie, die zum Teil im Besitz seiner Familie ist, muss er die Kunst als Geschäft betrachten. Es geht darum, ihren Marktwert einzuschätzen, zu steigern und sie zu verkaufen.

Schnell werden die beiden ein Paar und Val zieht zu Paolo nach Mailand, um bei ihm zu sein. Val ist gerne mit Paolo zusammen, doch sie fragt sich, ob sie ihn liebt. Denn sie nimmt keine Gefühle in sich wahr, weiß nicht, ob sie vielleicht liebt, ohne es zu wissen, weiß nicht, wie sich Gefühle anfühlen. Außer der Angst und dem Nein – was sie nicht will, ist ihr bewusst, aber nicht, was sie will. Das Zusammensein mit anderen strengt sie an, vor allem, wenn es leer und still ist, wenn nichts zu tun ist, wenn es keinen Plan gibt. Auch wenn sie bei Paolo eine Ausnahme macht, bleibt die Unsicherheit: Was sieht er in ihr? Liebt er sie wirklich? Warum lässt er sich nicht von seiner Frau scheiden, von der er schon seit 10 Jahren getrennt lebt? Was, wenn er Val verlässt, ihrer überdrüssig wird? Weiterlesen

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Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt

Der Pfarrer Hannes und seine Frau Florentine leben in einem Dorf im Banat. Florentine ist in der Stadt aufgewachsen, hat keine Party ausgelassen, aber sie hat diesem Experiment zugestimmt und sich bald ans Landleben gewöhnt. Sie freundet sich mit Nika an, die zwar einen Mann und drei Kinder hat, aber ihre Zeit auch liebend gerne mit Florentine, Kaffee und Sauerkirschlikör verbringt – bis sie an einer versuchten Abtreibung stirbt.

Zu den anderen Dorfbewohnern findet Florentine kaum einen Draht. Denn sie spricht nicht gerne. „Ihr Schweigen musste wirken, als hielte sie sich für etwas Besseres. Florentine spürte Worten gegenüber ein nie ganz aufzulösendes Unbehagen. Die Unschärfe der Aussagen verunsicherte sie. Wie sehr sie sich auch bemühte: Sprechen reichte nicht an die Wirklichkeit der Erfahrungen heran.“ (Kapitel 1, Zăpadă).

Auch ihr Sohn Samuel spricht spät und nicht viel. Sie vermutet, dass sie daran schuld ist. Hannes fällt es schwer, einen Zugang zu Samuel zu finden. Auch die Stellung im Banat ist nicht gerade das, was er sich gewünscht hat.

Dennoch führen Hannes und Florentine ein offenes Haus. Immer wieder haben sie Gäste, die auf der Durchreise eine Unterkunft bei ihnen finden. Eines Tages kommen Bene und Lothar bei ihnen unter. Sie stammen aus der DDR und sind auf dem Weg ans Schwarze Meer. Aus dem kurzen Zwischenstopp werden drei Wochen und eine Verbindung, die später noch eine Rolle spielen wird. Weiterlesen

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Michaela Carter: Die Surrealistin

Im Juni 1937 lernt Leonora Carrington in London Max Ernst kennen. Leonora, eine Engländerin aus wohlhabendem Hause, hat dafür gekämpft, Kunst studieren zu können. Ihre Eltern wollen sie lieber vorteilhaft verheiratet sehen, wie es in ihren Kreisen üblich ist. Sie ist gerade zwanzig, Max ist bereits Mitte vierzig, verheiratet und ein anerkannter Künstler des Surrealismus. Diese Kunstrichtung fasziniert Leonora schon eine ganze Weile. Sie ist überzeugt, dass es kein Zufall ist, der sie mit Max und den anderen Surrealisten zusammenbringt. „Der Grund, weshalb Max hier saß, war ganz einfach und nicht von der Hand zu weisen. Ihre Liebe zu seiner Kunst hatte irgendwie den Mann selbst angezogen.“ (Kapitel 2).

Die beiden werden ein Paar. Die Ehe von Max ist kein Hindernis, er hatte schon viele Affären und möchte sich sowieso von seiner Frau trennen. Für ihn hat die Beziehung zu Leonora eine ganz neue Qualität. Für die junge Frau bedeutet das Zusammensein mit Max den Bruch mit ihrer Familie. Die Liebe der beiden ist intensiv und fast schon symbiotisch, sie verschmelzen nahezu zu einer Person, können nicht mehr ohne einander sein. Zwar malt Leonora selbst, aber sie wird auch zur „Muse“ für Max, deren Gestalt oder Gesicht eine Zeit lang auf fast jedem seiner Bilder zu sehen ist. Nach einer gemeinsamen Zeit in der Pariser Künstlerszene ziehen sie in ein Dorf in der Provence. Auch Leonoras Gemälde sind surrealistisch. Dabei schöpft sie aus Traumerlebnissen, aber auch aus Begebenheiten in einer anderen Welt, in die sie eintritt oder in die sie hineingezogen wird. Immer wieder wird sie aus der Realität katapultiert (oder ist diese andere Welt auch real?). Weiterlesen

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