Stuart Turton: Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle

Ein Buch mit immenser Sogwirkung, unglaublich spannend von der ersten bis zur letzten Seite! Gleich zu Beginn des Plots stößt uns Stuart Turton unmittelbar in ein höchst bedrohliches Szenarium hinein. „Zwischen einem Schritt und dem nächsten vergesse ich alles.“ Der Ich-Erzähler kommt in einem Wald zu sich, eine Frau schreit um Hilfe. Er weiß weder wer er ist, noch wo er ist, noch wie er hierherkam. Hektik, Durcheinander, Orientierungslosigkeit. Der Name Anna geistert durch seinen Kopf, sein Körper fühlt sich fremd an, finstere Menschen tauchen aus dem Nichts aus. Allein dies beschreibt der britische Autor so dramatisch, dass wir Leser sofort von der Hauptperson amortisiert werden. Wir sehen, was er sieht. Wir wissen, was er weiß. Wir durchleben dieselbe Entwicklung, so dass wir sofort mit der Hauptfigur verschmelzen und sympathisieren. Denn Turton führt uns ganz nah ans Geschehen– und mitten hinein in einen abenteuerlichen, meisterlich verwobenen Plot.

Der Ich-Erzähler schafft es aus dem Wald heraus, überzeugt davon, Zeuge eines Mordes geworden zu sein. Er landet auf Blackheath House, einem einstmals prächtigen Landsitz, der mittlerweile im Verfall inbegriffen ist. Dort sind zu diesem Wochenende etliche Gäste geladen. Ein Maskenball soll stattfinden anlässlich der Rückkehr von Evelyn Hardcastle, der Tochter des Hauses, die 19 Jahre lang in Paris gelebt hat. Auf Blackheath House wird der Protagonist von seinem Freund Daniel als Dr. Sebastian Bell begrüßt. Während Bell versucht, seine Erinnerung zurück zu erlangen und etwas über Anna und die Frau im Wald heraus zu bekommen, wird er immer mehr in die Geschehnisse des Hauses verstrickt. Dann der größte Schock: Am nächsten Morgen wiederholt sich der Ablauf desselben Tages exakt wieder, gleich einer Zeitschleife. Mit einer „kleinen“ Änderung: Diesmal steckt der Erzähler im Körper des Butlers. Ein als Pestdoktor verkleideter Sonderling klärt ihn schließlich auf: Jeden Abend um Punkt elf Uhr stirbt Evelyn Hardcastle. Der Ich-Erzähler erlebt denselben Tag acht Mal in acht verschiedenen Personen. So lange hat er Zeit herauszubekommen, wer Evelyn getötet hat, ansonsten wiederholt sich das Ganze vor vorn. Zumal eine Flucht von Blackheath House unmöglich ist. Denn das Gebäude lässt seine Bewohner nicht ziehen.

Damit beginnt eine äußerst spannende und wendungsreiche Suche. Der Protagonist trifft auf Anna, die ebenfalls auf Blackheath House feststeckt und ihm helfen will. Denn leider gibt es noch andere Mitstreiter, die den Fall ebenfalls lösen wollen, um so aus der Zeitschleife auszubrechen. Um dies zu erreichen, sind die gewillt, seine verschiedenen Wirte zu töten. Doch die Lösung des Rätsels ist aus vielen Gründen mehr als vertrackt. Zum einen scheint der Fall mit dem mysteriösen Mord an Evelyns Bruder vor 19 Jahren zusammenzuhängen. Zum anderen sieht Evelyns Ableben eher nach Suizid als nach Mord aus. Das wohl größte Problem: Der Protagonist, der in seinem „richtigen“ Leben auf den Namen Aidan Bishop gehört hat, muss in den Hüllen seiner Wirte agieren und sich mit deren Stärken und Schwächen auseinandersetzen, ohne sich selbst in der neuen Haut zu verlieren. Mal steckt er in der Haut eines Vergewaltigers, mal in einem stark übergewichtigen Bankier, der zwar einen scharfen Verstand aufweist, aber nahezu bewegungsunfähig ist. Keine gute Voraussetzung für Verfolgungsjagden, Observierungen und Kampfeshandlungen… Zudem scheinen praktisch alle Gäste und Bewohner dunkle Geheimnisse zu hüten, die miteinander verwoben sind. Doch die wichtigste Frage lautet wohl: Warum passiert das alles – und wer steckt dahinter?

Auf 600 Seiten breitet der britische Autor Stuart Turton ein wahnwitziges, waghalsiges und äußerst überraschendes erzählerisches Panoptikum aus. Wendungen lauern hinter jeder Ecke. Aidan springt in der Zeit vor und zurück, switcht zwischen verschiedenen Körpern, lernt Menschen aus unterschiedlichen Blickwinkeln kennen und weiß bald nicht mehr Freund und Feind voneinander zu unterscheiden. Wir Leser sind ebenfalls hautnah dabei und voll im Geschehen gefangen. In einem Atemzug inhalieren wir diesen mit zahlreichen Cliffhangern versehenen Krimi. Plus: Die Geschichte ist wirklich erst am Ende zu Ende. Noch auf den letzten Seiten warten Twists and Turns darauf, dem Gelesenen eine völlig neue Richtung zu geben. Es hat selten so viel Spaß gemacht, sich in die Irre führen zu lassen.

Drei Jahre hat der Brite Stuart Turton für diesen Roman benötigt. Kein Wunder, die ineinander verschachtelten Erzählstränge sind perfekt austariert und nichts, was man sich so nebenbei aus dem Ärmel schüttelt. Allein die Charakterzeichnungen sind so fantastisch wie mysteriös geraten. Es ist nie ganz klar, wo der „Wirt“ endet und wo Aidan anfängt. Dafür verdient der Autor Respekt. Als Lohn winkte zum Beispiel der Costa First Novel Award.

Fazit: Ein intelligenter, origineller, wendungsreicher und klug verschachtelter Krimi. Blackheath House lässt seine Hauptfigur nicht mehr los, uns Leser ebenso. Dieses Buch aus der Hand zu legen–ein Ding der Unmöglichkeit!

Stuart Turton: Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle.
Tropen, August 2019.
605 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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Ein Kommentar zu “Stuart Turton: Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle

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