Stefan Bollmann: Monte Verità

Sie sind langhaarig, Vegetarier, Aussteiger, praktizieren freie Liebe und nacktes Sonnenbaden: Nein, die Rede ist nicht von den 1968ern. Die Rede ist von den Bewohnern des Monte Verità, jenem Ort über dem Lago Maggiore bei Ascona, der zwischen 1900 und 1920 Hotspot von Anarchisten, Rebellen, Freidenkern, Künstlern und Naturmenschen war. Körper, Geist und Seele wieder in Einklang bringen. Raus aus dem steifen Korsett, den industrialisierten und verdreckten Großstädten. Rein in eine Selbstversorger-Kommune, die Freiheit und Selbstentfaltung verspricht. Stefan Bollmann folgt der illustren Gründertruppe und ihren Gästen, von Hermann Hesse bis Käthe Kruse. Er zeigt, dass das Vermächtnis des Monte Verità noch Generationen später weltweit Früchte trägt. Sogar sprichwörtlich: Denn ohne diese Reformbewegung hätte Steve Jobs seine Firma nicht Apple genannt!

Dies ist nur eine der vielen kleinen, verblüffenden Geschichten, denen Stefan Bollmann in seinem Buch nachspürt. Zunächst zeigt er die Anfänge der alternativen Lebenskommune. Sechs Mitglieder –  die Musikerschwestern Ida und Jenny Hofmann, der demissionierte Soldat Karl Gräser und sein jüngerer Bruder Gustav, der reiche Industriellensohn Henri Oedenkoven und die getürmte, esoterisch interessierte Bürgermeistertochter Lotte Hattemer haben keine Lust mehr auf die bürgerliche Enge des deutschen Kaiserreichs. Sie träumen von einem freien Leben, im Einklang mit der Natur. Doch bald zerfällt die Gruppe in „Realos“ und „Radikale“. Karl und Jenny hausen am Fuße des Berges in Höhlen und lehnen jegliche Art von Fortschritt ab. Henri und Ida, die eine freie „Reformehe“ führen, wollen einen modernen Kurbetrieb auf dem „Berg der Wahrheit“ errichten, der auch Gewinn abwerfen soll. Lichtlufthütten sowie ein nahezu eckenloses Zentralgebäude mit Bibliothek, Vortrags- und Musikzimmern werden erbaut.

Im Folgenden wird auf dem Monte Verità geliebt, gehasst, gestritten. Politische Umwälzungen werden diskutiert und Psychoanalysen betrieben, während man sich textilfrei sonnt oder eigenes Obst und Gemüse anbaut. Dabei zeigt Bollmann auch das Scheitern der Figuren. Freie Liebe schützt vor Syphilis nicht, mancher Seelenstriptease endet gar in Irrsinn und Freitod. Ideologien drohen ins Sektenhafte abzugleiten. Auch finanziell wirft der Monte Verità nicht den erhofften Erfolg ab. Der kreative Sog der Vegetarier-Kolonie ist jedoch unumstritten, die Prominenz lässt nicht lange auf sich warten. Hermann Hesse flüchtet hierher, weil er die Verantwortung des Familienlebens nicht mehr ertragen kann. Der Anarchist Erich Mühsam frönt in Ascona nicht nur homoerotischen Abenteuern, sondern schnorrt sich rigoros durch alle Gesellschaftsschichten. Mit Anarchie ist einfach kein Brot zu verdienen…

Daneben wird der Monte Verità eine Wirkstätte von starken Frauen, die auch ohne Mann ihren Weg gehen. Da ist Käthe Kruse, die sich mit ihren beiden Töchtern niederlässt. Ihr Geliebter, der fast dreißig Jahre ältere Berliner Bildhauer Max Kruse, will sich nicht zu ihr bekennen. Die alleinerziehende Mutter entwirft auf dem „Berg der Wahrheit“ ihre weltberühmten Puppen, die aus weichen, natürlichen Materialien hergestellt und anders als ihre steife, porzellanartige Konkurrenz endlich auch zum Kuscheln geeignet sind. Malerin Marianne von Werefkin produziert über 600 Bilder auf dem Monte Verità. Die chronisch überschuldete Bohemienne Franziska zu Reventlow beschließt, ihren Lebensunterhalt endlich selbst zu verdienen und schreibt drei Romane.

Ihre erfolgreichste Zeit hat die Kolonie zwischen 1913 und 1919, als Rudolf von Laban eine Tanzschule auf dem Monte Verità betreibt, wo er modernen Ausdruckstanz lehrt – heute würde man ihn als „Contemporary Dance“ bezeichnen. Auf legendären Sommerfesten geraten junge Tänzerinnen in Ekstase, huldigen durch ihre Aufführungen dem Lauf der Sonne. Dies brachte der Kolonie den Namen „Balabiòtt“ seitens der Einheimischen ein – die tanzenden Nackten!

Es war eine aufregende Zeit, die den Grundstein für Entwicklungen gelegt hat, die uns noch heute beschäftigen. So verpasst es der Autor nicht, immer wieder Bezüge zur jetzigen Gesellschaft herzustellen. Und er verdeutlicht die Zusammenhänge: Was war an dem Monte Verità so revolutionär? Nach der Lektüre dieses Buches weißt der geneigte Leser um die Zusammenhänge zwischen Vegetarismus und Feminismus, Theosophie und Psychoanalyse, Körperkultur und Industrialisierung sowie Ausdruckstanz und Okkultismus.

Wer Lust bekommen hat, mehr in die Materie einzutauchen, kann dies tun: Seit Mai 2017 gibt eine Dauerausstellung in der restaurierten Casa Anatta auf dem Monte Verità Einblicke in die bewegenden Umbruchjahre seiner ganz besonderen Bewohner. Schön, dass sich Autoren und Historiker dieser spannenden Epoche angenommen haben. Denn der Traum von alternativen Leben ist bis heute nicht ausgeträumt.

Stefan Bollmann: Monte Verità: 1900 – der Traum vom alternativen Leben beginnt.
DVA, Oktober 2017.
320 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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