Es beginnt mit dem Sprung, dem Schritt über die Dachkante, dem Fall, den Empfindungen. Dann treten wir einen Schritt zurück und werfen einen Blick auf die Menschen, deren Leben durch die Frau auf dem Dach eine andere Richtung nimmt.
Da ist zunächst Felix, der Polizist. Die Schwangerschaft seiner Frau Monique wirft ihn aus der Bahn. Doch er kann nicht mit ihr darüber reden, sondern hält immer mehr Abstand. Nach der Arbeit zieht er sich in den Keller zurück, um Elektrogeräte auseinanderzunehmen und wieder zusammenzubauen.
Auch Maren hat Probleme in ihrer Ehe. Früher haben ihrem Mann Hannes ihre Kurven gefallen. Doch seit er an seinem 40. Geburtstag beschlossen hat, sein Leben grundlegend zu ändern, hat er 25 Kilo abgenommen, achtet sehr auf seine Ernährung und trainiert fast wie ein Besessener. Marens halbherzige Versuche, es ihm gleichzutun sind nicht von Erfolg gekrönt. Eigentlich mag sie sich so, wie sie ist.
Teenagerin Winnie hadert ebenfalls mit ihrer Figur, die ihr unter ihren Altersgenossen häufig Spott einbringt. Ihre Bemühungen, dazu zu gehören, sind bisher gescheitert. Sie hat sich ihre eigene Comic-Welt geschaffen, in der sie allen zeigen kann, was in ihr steckt.
Superkräfte wünscht sich auch Theres, die mit ihrem Mann Werner einen kleinen Laden führt. Doch der Lebenstraum des Ehepaars steht kurz vor dem Untergang. Die Konkurrenz gräbt Werner‘s Grocery die Kunden ab. Das liegt zum Teil auch am nostalgischen Sortiment, auf das Werner so großen Wert legt. Wie schlecht es tatsächlich schon steht hat Theres ihrem Mann noch gar nicht erzählt. Er ist sowieso schon depressiv und steht erst gegen Mittag auf.
Finn ist eigentlich nur zufällig an diesem Ort gestrandet. Der junge Mann verdient sich als Fahrradkurier das Geld für eine Reise mit dem Fahrrad in ferne Länder. Viel fehlt ihm nicht mehr, doch vor Kurzem hat er Manu kennengelernt und sich in sie verliebt. Manu, die Pflanzenretterin, die sich in keine Schublade stecken lässt, die jede Blume, jeden Busch und jeden Baum mit Namen kennt. Kann er sie verlassen? Oder wird sie ihn vielleicht begleiten?
Und dann steht an diesem Morgen eine junge Frau auf einem Dach mitten in der Altstadt. Direkt gegenüber von Roswithas Café. Die alte, meist grummelnde Edna bemerkt sie zuerst. Panik überkommt sie. Die wird doch nicht springen wollen! Edna ruft die Polizei. Die Dinge nehmen ihren Lauf. Beamte sperren den Platz ab, die gaffende, filmende Menschenmenge wächst und die Frau weigert sich, herunter zu kommen – den ganzen Tag und die nächste Nacht.
Hier all die faszinierenden Figuren aufzuzählen, die Simone Lappert in ihrem Roman „Der Sprung“ geschaffen hat, würde den Rahmen sprengen – denn es sind weit mehr, als die elf Menschen, von denen im Klappentext die Rede ist. Es sind ganz „normale“ Leute mit ihren Macken, Problemen, Fähigkeiten und ihrer eigenen Weisheit und gerade deshalb sind sie so einnehmend und authentisch. Selbst für viele, deren Verhalten ich nicht gutheißen kann, konnte ich ein gewisses Verständnis entwickeln. Wieder einmal ist mir durch ein tolles Stück Literatur bewusst geworden, was in jedem und jeder von uns stecken kann, wie viel wir jeden Tag erleben, auch wenn wir es meist gar nicht bewusst wahrnehmen und wie vielschichtig und abgründig ein Menschenleben ist.
Ganz besonders beeindruckt hat mich Simone Lapperts Beobachtungsgabe und der Reichtum an Details, mit dem sie ihre Geschichten erzählt. Mit allen Sinnen können die Leserinnen und Leser den Fortgang des Romans erleben. Ich habe einiges über gebratene Spitzwegerich-Knospen, Schweineaugen, Schwiegermutter-Geschenke und Überraschungseier gelernt. Und wenn ich Henry treffe, werde ich ihm sicher eine von seinen klugen Fragen abkaufen.
Am Ende brechen einige Menschen auf, andere brechen zusammen. Manche teilen ihre Geheimnisse, manche behalten sie für sich. Den einen winkt das Glück, den anderen die Unsicherheit. Wie im echten Leben.
„Der Sprung“ und seine Autorin Simone Lappert gehören für mich zu den Entdeckungen des Jahres, die ich keinesfalls missen möchte. Großartig und wärmstens zu empfehlen!
Simone Lappert: Der Sprung.
Diogenes, August 2019.
336 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.
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