Silvia Bovenschen: Lug und Trug und Rat und Streben

Agnes Lupinski hat Kopfschmerzen. Sie ist müde und erlebt gerade einen merkwürdigen Tag. Diverse elektrische Geräte von der Zahnbürste über den Computer bis zur Spülmaschine und dem Staubsauger geben ihren Geist auf. „Ein beschissener, verschlissener Tag“, denkt sie und kommt ins Grübeln, ob nur bei Maschinen Schwächen eingebaut werden, um sie nach einer bestimmten Zeit unbrauchbar zu machen oder ob es diese „Sollbruchstellen“ auch bei Menschen gibt. „Eine künstlich verknappte Lebenszeit…?“

Und dann kündigen sich auch noch ihr Schwager Ulli und ihr Neffe Max an und ihr Freund Frederic schleppt sie in ein Küchenstudio, in dem sie sich fragt, ob moderne Küchen jetzt so aussehen wie Weltraumoperationssäle oder Geheimlaboratorien.

So beginnt Silvia Bovenschens letzter Roman über die Bewohnerinnen und Bewohner eines unscheinbaren, etwas altmodischen Hauses. Außer Agnes, die das Erdgeschoss bewohnt wären da im 1. Stock ihre Tante Alma Lupinski und deren Schwager Herr von Bärentrost, Bruder ihres lange verschollenen Ehemannes, der im Keller residiert.

Bei Alma gibt es, wie Max entdeckt hat „Mäuschentage“ und „Rumpeltage“. An ersteren sitzt sie still und liest, an letzteren versucht sie zu schreiben und trampelt gefühlt nach jedem dritten Satz mit ihren Blockabsätzen durchs Zimmer. Sie hat im Alter einige Marotten entwickelt. Außer Max lässt sie niemanden ohne telefonische Voranmeldung in ihre Wohnung und ansonsten grummelt, schimpft oder poltert sie über die moderne Welt vor sich hin.

In dieser Hinsicht ähnelt sie dem Herrn von Bärentrost, der ebenfalls den Verfall der Kultur beklagt, seine Gedanken leidenschaftlich von sich gibt oder in unzähligen Kompendien festhält. Seine einzigen Kontakte zur Außenwelt sind seine derzeitige Betreuerin Irmgard (die allerdings schon die Kündigung angedroht hat), seine Schwägerin Alma, die hin und wieder mit ihm telefoniert, das Fernsehen und die Füße, die vor seinem Kellerfenster vorübergehen. Seine Wohnung verlässt er nie.

Agnes‘ Neffe Max, häufig in den Ferien und an Wochenenden zu Besuch, weil sein alleinerziehender Vater dienstlich in der Weltgeschichte herumreist, liebt vor allem das Dachgeschoss. Dort stehen Schränke, Kommoden und Truhen voll mit Geheimnissen, die der Junge noch ausführlich erforschen muss. Im Übrigen ist Max vernarrt in Wölfe und möchte am liebsten selbst einer sein.

Doch dann taucht Mr. Odino auf und macht Max die Mansarde streitig. An der Bucht von Neapel hat der emeritierte Literaturprofessor an seine einstige Geliebte Alma Lupinski gedacht und sich aufgemacht, sie wieder einmal zu sehen. Die ist davon überhaupt nicht begeistert, aber nach schwierigen Verhandlungen kann Mr. Odino das Dachgeschoss beziehen, vorübergehend, jederzeit kündbar und mit der Auflage, Max Zugang zu gewähren, um mit ihm gemeinsam die Geheimnisse zu ergründen.

Als Max die Forscherei satthat, macht er mit Alma und Mr. Odino einen Ausflug nach Mispelheim. Dort landen sie in einer Art Parallelwelt, in der ihnen Hören und Sehen vergeht. Das dritte, mittlere Kapitel des Buches widmet sich diesem turbulenten Tohuwabohu.

Bei der abendlichen Gala im Colosseum begegnen die drei allerlei schrägen Typen. Sie meinen, doppelt und dreifach zu sehen, stoßen auf „Duplikate“, „Körpervariationen“ oder „Klone“, erleben wie ein alljährlich wiederauferstehender, fast 2000 Jahre alter Grieche auf der Bühne zerfleischt wird und wohnen dem Kampf zwischen der „übermäßig Frommen“ und der „heißblütigen Robotfrau“ bei. Ein Schauspieler liefert sich mit seinem Double ein Duell, in dem sie sich Fragmente von Zitaten an den Kopf werfen: Sie werden langsam unbrauchbar, ihre Speicher wurden schon teilweise gelöscht. Sie treffen einen Eremiten, der Alma an ihren verschwundenen Mann erinnert und staunen über einen Turm, der aus dem Boden zu wachsen scheint und kurz darauf wieder in der Schwärze der Nacht verschwindet.

„Was war das?“, fragt Alma auf der Rückfahrt. „Wahrscheinlich war das alles nichts als Wahn und leerer Dunst“, antwortet Mr. Odino. Aber es könnte auch eine Provokation, eine Parodie ihrer Ängste, die Zukunft oder die misshandelte Vergangenheit gewesen sein. Die beiden haben noch mehr Ideen, bis sich zuletzt der Busfahrer zu Wort meldet: „Ich kann Ihnen sagen, wo Sie waren, Sie waren auf Europas Resterampe.“ Wer Recht behält, bleibt offen, wie so manch anderes in diesem Buch.

Die im Oktober 2017 verstorbene Literaturwissenschaftlerin, Autorin und Essayistin Silvia Bovenschen sagt von ihrem letzten Buch, das sie kurz vor ihrem Tod vollendet hat: „Ich liebe mein Buch, aber ich kann es nicht empfehlen“.

Im zweiten Punkt bin ich anderer Meinung. Wer rätselhafte Bücher mag, wer Anspielungen auf alte Geschichten, Mythen oder Literatur, kluge Unterhaltung oder philosophische Überlegungen anregend findet und wer die moderne Kultur hinterfragt, dem kann ich dieses Buch empfehlen. Schlau wird man nicht unbedingt aus allem, aber es öffnet definitiv den Horizont ein Stückchen weiter.

Silvia Bovenschen: Lug und Trug und Rat und Sterben.
Fischer, Januar 2018.
208 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.

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