Scholem Alejchem: Tewje, der Milchmann (1922)

scholemTewje ist arm, verheiratet und Vater von sieben Töchtern. Eines Abends, als seine Not besonders groß ist, begegnet er im Wald zwei herumirrenden Frauen. Er soll sie nach Hause bringen. Viel spricht gegen diese Hilfe. Der Weg führt in die falsche Richtung. Er ist müde, hungrig und verzweifelt wegen der schlechten Tagesgeschäfte. Trotzdem hilft Tewje. Am Ziel angekommen sind er und sein Pferd am Ende ihrer Kräfte. Erst so nach und nach begreift er, dass die Frauen aus einer reichen Familie stammen, die ihn großzügig entlohnen. Das Glück schenkt ihm einen beruflichen Neuanfang als Milchmann. Seine Familie ist zwar immer noch arm, aber muss nicht mehr hungern. Allmählich geht es wirtschaftlich aufwärts. Doch dann sucht ihn das Schicksal immer wieder heim: Ein windiger Verwandter schwatzt ihm eine fragwürdige Geldanlage auf. Die Töchter lieben im heiratsfähigen Alter die »falschen« Männer. Und schließlich wird er trotz seiner allgemeinen Beliebtheit Opfer antisemitischer Hetzkampagnen. Tewjes Existenz und die seiner Angehörigen ist gefährdet.
Der Ich-Erzähler Tewje berichtet dem unter Pseudonym schreibenden Scholem Rabinowitsch (1859 – 1916) Ereignisse aus seinem Leben und zieht damit einen Bogen durch das jüdische Leben in der Ukraine, als die letzten beiden Zaren über Russland herrschten. Damals wohnten und arbeiteten Juden in nur für sie vorbehaltenen Orten, was sie jedoch nicht vor blutigen Pogromen schützte. Eingebettet in der Welt des Ostenjudentums nährt der Erzähler seine Lebensphilosophie aus dem Glauben. Tewje wird nicht wie Hiob von Gott geprüft, er nimmt sein Schicksal an. An einer Stelle erklärt er Scholem Alejchem: »… ein Mensch ist schwächer als eine Fliege und stärker als Eisen … Wo nur irgendwo ein Malheur, ein Leid, ein Schicksalsschlag ist – ich entwische ihm nicht. … Aber was soll ich tun …? Ich bin, wie Ihr wisst, ein frommer, gottergebener Mensch und gehe niemals mit dem, der da ewig lebt, ins Gericht. Wie Er gebietet, so ist es gut.« (S. 99)
Der Roman fällt durch seine besondere Sprachmelodie und -rhythmik auf. Vordergründig erinnert der Schreibstil an das Lamentieren eines überschwänglichen Mannes, der über glückliche Wendungen jubelt und kurz darauf von den Tatsachen heimgesucht wird. Das Auf und Ab von Tewjes Gefühlen hat komische Seiten, wenn er als Patriarch seinen Willen durchsetzen möchte, und den Argumenten seiner Töchter unterliegt. In allen Lebenslagen zitiert Tewje jiddische Weisheiten, um die eigene Bildung hervorzuheben. Dabei liebt er das Spiel mit den Worten. Die eigenwillige Schreibweise des Wortes »All-Gemeinheit« im Zusammenhang mit politisch motivierten Angriffen gewinnt eine Doppelbödigkeit, die an anderen Stellen bei fehlenden Vorkenntnissen nicht sofort erkannt wird.
Im Laufe von zwanzig Jahren hat Scholem Rabinowitsch alias »Scholem Alejchem« (»Friede sei mit euch«) seinen Roman »Tewje, der Milchmann« geschrieben. In jedem einzelnen für sich abgeschlossenen Kapitel beschreibt er Archetypen vor einem besonderen politischen Ereignis. 1922 erschien die Übersetzung des Romans, der zuvor in Ausschnitten veröffentlich worden ist. 1964 entstand aus einigen Kapiteln das berühmte Musical »Fiddler on the Roof« bzw. »Anatevka«. Mit seinen umfangreichen Werken vertritt Scholem Alejchem die moderne jiddische Literatur.

Scholem Alejchem: Tewje, der Milchmann (1922).
Manesse, März 2016.
288 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,95 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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