Sarah Crossan: Wer ist Edward Moon?

Die Familie Moon leuchtet nicht mehr so hell. Nachdem der Vater verschwunden ist, sieht sich die Mutter nicht mehr in der Lage, für ihre drei Kinder Edward, Angela und Joseph zu sorgen. Weil Edward zehn Jahre älter als Joe ist, hat er die Vaterrolle für den kleinen Bruder übernommen. Auch Angela trägt mehr Verantwortung, als für sie gut ist. Viele Jugendliche wären in so einer Situation genervt, aber Ed liebt Joe. Er wird für ihn die wichtigste Bezugsperson, und darüber hinaus ist er auch sein Freund, Beschützer und Vorbild, bis Ed abhaut. Zu diesem Zeitpunkt ist Joe sieben Jahre alt und versteht die Welt nicht mehr. Für zehn lange Jahre versteht er sie nicht, bis er beschließt, Ed zu besuchen. Dieser wartet in einem texanischen Todestrakt auf seine Hinrichtung. Für Joe bleibt nicht mehr viel Zeit, das Vergangene aufzuarbeiten. Und dann sind da noch ein paar wichtige Fragen.

Sarah Crossan lebt in England und wurde für ihre Bücher mehrfach ausgezeichnet. Für den Jugendroman Wer ist Edward Moon erhielt sie 2020 den Deutschen Jugendliteraturpreis. Und dies zu Recht. Sie verarbeitet das brutale und leider alltägliche Thema Todesstrafe so behutsam in einer jugendgerechten Sprache, dass man ihr nicht nur sehr gern folgt, sondern auch gebannt Joes Geschichte liest. Der von Cordula Setsmann übersetzte Roman ist in einer nüchternen Sprache gehalten. Optisch hat die Autorin die Sätze entzerrt, so dass sie auf den ersten Blick wie ein langes Gedicht aussehen. Genaugenommen hat Sarah Crossan die verschiedenen Bedeutungen und Informationen voneinander getrennt, so dass die ganze Wucht eines Satzes mit all seiner innewohnenden Dramatik in kleine Schläge aufgeteilt wird und diese wiederum kontinuierlich auf ein absehbares Ziel einhämmern. Wer mit der Lektüre beginnt, dürfte sich nur sehr schwer von Joes packender Erzählung lösen wollen.

Zwischen verschiedenen Rückblenden erfährt man, wie Joe mit viel zu wenig Geld nach Texas reist und seinen Bruder über einen Zeitraum von circa sechs Wochen täglich besucht. Auf dieser Reise erfährt er viel über das menschenverachtende Rechtssystem seines Landes, aber auch dass die Liebe an den seltsamsten Orten auftaucht.

Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten mit seinem Versprechen, den amerikanischen Traum zu leben, zeigt seine Härte bei den Schwächsten in seiner Gesellschaft. Sie trifft die Armen und häufig die Jungen, wie das Beispiel von Ed zeigt. Im noch minderjährigen Alter wird er verhaftet. Das Gesetz, das ihm für die nächsten drei Jahre Alkohol verbietet, erlaubt Polizisten, bei ihm harte Verhörmethoden mit Schlafentzug und körperlicher Bedrohung vorzunehmen. Hauptsache, sie können der Presse einen Täter für den Mord an ihrem Kollegen präsentieren. Danach schluckt das System einen weiteren „Schuldigen“. Was das System nicht schlucken kann, ist die Geschwisterliebe und ihr Zusammenhalt.

„‚… Ich schlage mich nur irgendwie durch.
Mehr können wir alle nicht tun, oder? Nicht mal der Direktor.‘
‚Manche Leuten haben die Macht‘, sage ich.
‚Wir alle haben Macht, Joe. Man muss sie nur zu nutzen wissen, Mann.‘“ (S. 211)

Und am Ende einer extrem fesselnden und berührenden Lektüre stellt sich nicht die Frage, wer Edward Moon ist, sondern wofür Edward Moon steht.

Sarah Crossan: Wer ist Edward Moon?.
Mixtvision, Dezember 2020.
357 Seiten, Taschenbuch, 10,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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