Saphia Azzeddine: Bilqiss

bilqissSaphia Azzeddine scheint ein vorausschauendes Gespür für brisant aktuelle Thematik zu haben. So hat sie in ihrem vorangegangenen Roman Mein Vater ist Putzfrau das Zuhause des jungen Protagonisten in den Banlieues von Paris angesiedelt und die Perspektiv- und Trostlosigkeit dieser Umgebung gespiegelt, was kurz darauf, nach den Pariser Attentaten, in den Focus der Medien aufgenommen wurde.

In Bilqiss tangiert Azzeddines Roman erneut aktuelles Tagesgeschehen, Politdebatten und Medienberichte – in diesem Fall  betrifft es Burka tragende Frauen (im Buch allerdings im islamischen Heimatland) und ihre innere Einstellung hierzu. 

Doch dies ist nur ein kleiner Teilbereich der Handlung. Bilqiss ist weitaus mehr als ein brisanter Gegenwartsroman:

Zentrales Thema ist die Steinigung einer Frau. Saphia Azzeddine beleuchtet in dieser Geschichte den Koran und die abweichenden, ihren eigenen Ansinnen dienenden Interpretationen der Bartträger. In einer hintersinnigen, tragikomischen Handlung hinterfragt die Autorin kritisch die Unterdrückung der Frauen im Islam.

Bilqiss ist eine verwitwete, intelligente, gläubige Muslimin, die eines Morgens anstelle des total betrunkenen Muezzin das Minarett hinaufsteigt und den Gebetsruf singt.

Für diesen ungeheuerlichen Skandal soll sie gesteinigt werden. Zudem wird ihr unter anderem vorgeworfen, Make-up zu verwenden, Stöckelschuhe zu tragen, Gedichtbände zu lesen. Außerdem findet man in ihrem Kühlschrank Zucchini und Auberginen, die Bilqiss  wegen ihrer Phallusform vom Händler beim Kauf hätte zerkleinern lassen müssen.

Bilqiss lehnt die Unterstützung eines Anwalts ab und verteidigt sich selbst. Der Richter, der sie befragt, verfällt Bilqiss und ihrer Intelligenz und schiebt dadurch den Tag der Steinigung immer weiter hinaus. Abends besucht er sie in ihrer Zelle und diskutiert mit der Gefangenen ihr Verhalten. Dieser Schlagabtausch ist abgesehen von der Doppelsicht gespickt mit Sprachwitz.

Die junge amerikanische Journalistin Leandra erfährt von Bilqiss‘ Schicksal und wittert DIE Story. Sie fliegt in das islamische Land um die Weltöffentlichkeit mit Bilqiss‘ Schicksal zu konfrontieren. Hier setzt Azzeddine einen weiteren gekonnten Schachzug ein, denn mit der Person der Journalistin hält sie der oft arroganten, unsensiblen westlichen Welt einen Spiegel vor und beschreibt auch diese Seite kritisch.

Alle drei Figuren stellen die Situation aus ihrer individuellen Sicht dar. Dadurch gelingt es der Autorin nicht nur, ihren Lesern Hintergründe und gewisse Gepflogenheiten einer muslimischen Gesellschaft auf eine ganz eigene Weise näher zu bringen, sondern vielleicht auch, sich neue Gedanken zu machen.

Die abstruse Situation der richterlichen Besuche bei einer Angeklagten im Gefängnis ist natürlich weit von der Realität entfernt, was sicher jedem Leser gewahr sein wird. Aber genau durch diese Gegebenheit kann Saphia Azzeddine diesen Roman so bitter-komisch wie ernst erzählen.

Diese kleine Erzählung hat es in sich und brodelt nur so von Provokationen. Der energiegeladene Schreibstil verleitet, die Zeilen zu verschlingen, doch man muss sich zwingen innezuhalten und die hintersinnige Gewichtung wirken zu lassen.

Lesenswert.

Saphia Azzeddine: Bilqiss.
Verlag Klaus Wagenbach, August 2016.
176 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.

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