Ryan Gattis: Das System

Während andere in der Vorweihnachtszeit an Familie, Plätzen backen und Geschenke denken, wird der minderjährige Jacob, genannt Dreamer, am 08. Dezember 1993 wegen unerlaubtem Waffenbesitz und Mordversuch verhaftet. Der junge Samoaner steht mittellos ohne Eltern dar. Um nicht auf der Straße schlafen zu müssen, ist Jacob auf Fürsprecher angewiesen. Ihre Unterstützung braucht er nun mehr denn je.

Wer in einem Vorort von Los Angeles überleben will, braucht viel Glück. Jeder befindet sich in einem ständigen Ausnahmezustand. Dies liegt unter anderem an der geringen Verhaftungsquote, die den Gangmitgliedern in die Hände spielt. Und weil in den Gefängnissen ähnliche Gesetze herrschen, sieht Jacob schon das Ende seiner Zukunft, bevor sie überhaupt begonnen hat.

Ein Justizbeamter meint es gut mit ihm, als er ihn warnt: „He, Jacob, wenn du das nicht getan hast, dann reicht ein Anwalt nicht. Du musst dich selbst retten, denn das System ist das System. Es schluckt immer die mit der geringsten Fallhöhe.“ (S. 124)

Ryan Gattis erzählt in seinem zweiten Thriller eine packende Geschichte chronologisch und unmissverständlich aus der Perspektive verschiedener Beteiligter, als wolle er ein Erste-Hilfe-Buch für Menschen schreiben, die mit der amerikanischen Justiz in Konflikt geraten. Jeder von ihnen ist direkt oder indirekt in einem Netz aus Fallstricken gefangen, in das auch der siebzehnjährige Jacob hineingeraten ist. Jeder Schritt bringt ihn tiefer in das System der Justiz und gleichzeitig in das der Gangs hinein. Egal, wie er sich auch entscheidet, sein Leben scheint in jeder Hinsicht verwirkt zu sein. Denn die Kräfte, die an ihm zerren, sind stärker und gnadenloser. Die Verhaftung öffnet endlich seine Augen, und Jacob begreift sich als eine Figur in einem Spiel, das zwischen der Justiz und den Gangs ausgetragen wird. Beide Parteien wollen um jeden Preis gewinnen.

Durch die Tragik des Unabwendbaren baut der Autor zunächst langsam und dann immer schneller eine Spannung auf, die einem das Gruseln lehrt. Gleichzeitig zerpflückt er systematisch die Vorstellung von Gerechtigkeit und Fairness, weil jedes System für ihre Dienste Preise verlangt, die Jacob weder ausschlagen noch begleichen kann.

Ryan Gattis lässt alle Beteiligten aus der Ich-Perspektive von ihren Beweggründen erzählen, so dass sich sehr schnell Empathie und Verständnis für bestimmte Ereignisse aufbauen. Jeder Charakter hat dabei seinen eigenen Sprachrhythmus, so dass Bildung und kultureller Hintergrund deutlich werden. Der unfreiwillige Gangster und der unehrliche Beamte beschreiben, wie sie sich jeweils in ihrem System abstrampeln, um sich vor der Bestrafung bei einem Fehltritt zu schützen. Glücklicherweise zeigt der Autor aber auch Freiräume, die ein eigenständiges Handeln erlauben. Man muss sie nur erkennen und nutzen wollen.

Für Jacob geht die Reise in die Entmenschlichung. Für ihn entwickelt sich die Fremdbestimmung so weit, dass er seinen Körper nicht mehr als seinen eigenen betrachtet: „… Ich bin eine Scheißfaust, mit der jemand anders zuschlägt. Und wenn ich im Kampf kaputtgehe, dann kommt eben eine andere Faust.“ (S. 356)

In seiner Verzweiflung glaubt Jacob, „[…] Wut blendet alles andere aus. Ich muss nicht mal danach suchen, um meine Wut zu finden. Sie findet mich.“ (S. 165)

Der in jeder Hinsicht überzeugende Thriller, übersetzt von Ingo Herze und Michael Kellner, erlaubt Einblicke, die nur Beteiligte des Justizsystems, der Gangs, Inhaftierte und ihre Angehörige haben können. Ryan Gattis Botschaft kommt an, um im Kopf zu bleiben.

Ryan Gattis: Das System.
Rowohlt, Dezember 2020.
544 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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