Roberto Camurri: Der Name seiner Mutter

Für Pietro ist der Name der Mutter, der Name einer Fremden. Sie hat ihn verlassen, als er noch sehr klein war. Seit diesem Tag wächst er bei seinem Vater Ettore im ländlichen Norditalien auf. Der schweigsame Ettore erzieht Pietro so, wie er es von seinem schweigsamen Vater gelernt hat. Sie sprechen nur das Nötigste, weil die tägliche Arbeit im Vordergrund steht. Pietro wächst zu einem Mann heran, der nur eine strenge Erziehung und wenig Liebe kennt.

Noch immer schweigt sein Vater das Thema Mutter aus. Auch die Großeltern schweigen über die verschwundene Tochter, die alles hinter sich gelassen hat, die Familie, ihren Sohn, das Dorf und die an sie gesetzten Erwartungen. Und dann wird Pietro selbst Vater, und es sieht so aus, als könnten sich bestimmte Unzulänglichkeiten wiederholen.

Roberto Camurri gewann 2018 mit seinem ersten Roman A Misura d’Uomo gleich zwei Preise. Mit seinem zweiten Roman, Der Name seiner Mutter, übersetzt von Maja Pflug, stellt sich der Autor erstmalig dem deutschen Publikum vor.

Sein melodischer Sprachstil und das aktuelle Thema über den Verlust einer Bezugsperson überzeugen. Die Geschichte zeigt den alleinerziehenden Ettore, der mit seinen eingeschränkten Mitteln versucht, seinen Sohn auf das Leben vorzubereiten. Lettore ist ein naturliebender Mensch. Über seine Wahrnehmung bekommt der Naturalismus in der zeitgenössischen Literatur eine weitere Chance.

 „Die Luft ist frisch, obwohl Juli ist, Ettore steckt die Hände in die Taschen und geht los, hört seine Schritte auf dem Kies knirschen im Zirpen der Grillen, die Luft duftet nach wilden Gräsern, der Mond am klaren Himmel ist fast voll, die Straßenlaternen tauchen Fabbrico in ein anheimelndes […] warmes Licht.“ (S. 57)

Die Wahrnehmung der Natur gehört zu Lettores Leben wie die Luft zum Atmen. Dieses Geschenk gibt er auch an seinen Sohn Pietro weiter.

„Von dort oben kann Pietro das grüne Gras sehen, das auf dem Feld wuchert, die Ebene, die Bäume, ganz hinten Fabbrico, er weiß, dass im Sommer hier überall Sonnenblumen wachsen […]“ (S. 73)

Im Gegensatz hierzu beschreibt der Autor die Enge in der Gemeinschaft und im Alltag: „[…] seit sie zu dritt waren […] wurde alles, ihr Essen, ihr Kauen, die Geräusche von draußen, die durch die erst geöffneten, dann geschlossenen Fenster hereindrangen, die wattierte Stille im Winter und das Prasseln des Feuers im Kamin, vom andauernden, unaufhaltsamen Weinen ihres Kindes unterbrochen, das eigentlich in der Wiege neben dem Tisch hätte schlafen sollen.“ (S. 54)

In diesem Spannungsbogen finden sich für jede Leserin, jeden Leser Anknüpfungspunkte.

Pietros berührende Erzählperspektive konzentriert sich auf seine unvollständige Identitätsfindung. Allein durch das Totschweigen in der Familie wird ihm das zweite Standbein genommen. Humpelnd, hüpfend sucht er seine eigene Identität und seine Rolle als Mann, Ehemann und Vater. Wer diese Suche miterlebt, darf sich letzten Endes bereichert fühlen.

Roberto Camurri: Der Name seiner Mutter.
Verlag Antje Kunstmann, Februar 2021.
192 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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