Raynor Winn: Der Salzpfad

Der South West Coast Trail, Englands längster Fernwanderweg, ist  1014 km lang und führt von Minehead in Somerset über Nord-Devon, Cornwall und Süd-Devon bis nach Poole in Dorset. Ursprünglich patrouillierten Küstenwachen zwischen den Leuchttürmen auf diesem Weg um Schmuggler ausfindig zu machen.

Raynor und Moth Winn beschließen diesen Pfad zu erwandern, nachdem ihnen ihre Farm, auf der sie ihre Kinder großgezogen, Tiere gehalten, Gemüse angebaut und über viele Jahre Feriengäste aufgenommen hatten, nach einem Rechtsstreit weggenommen wurde. Obwohl das Ehepaar die Fünfzig überschritten hat und Moth an der  schmerzhaften, degenerativen Nervenkrankheit CBD leidet, wollen die Winns, da sie sowieso kein Dach mehr über dem Kopf haben, dieses Abenteuer in den Sommermonaten wagen. Sie beschaffen sich ein günstiges Zelt und billige Schlaf- und Rucksäcke.

Der Weg, der mit 35000 Höhenmetern immer wieder von den Klippen aufs Meeresniveau hinab und wieder hinauf führt, bringt die beiden oft an ihre Grenzen und verlangt alles von ihnen ab. Doch es ist nicht nur der oft kernige Streckenverlauf, der den Trip erschwert. Hinzu kommt, dass es in Großbritannien für Obdachlose keine Suppenküchen gibt und wildes Campen generell verboten ist. Von Moths magerer Ausgleichszahlung mit 48 Pfund pro Woche können sie sich nur selten einen Campingplatz leisten. Wild zu campen wird so jeden Tag aufs Neue zu einem Abenteuer. Zudem haben sie immer wieder mit widrigen Wetterverhältnissen zu kämpfen und ihre günstige Ausrüstung ist nicht für Regen und Kälte geeignet. Ihre Ernährung beschränkt sich auf Tütensuppen, Nudeln, Reis, Dosenfisch und billige Süßigkeitsriegel. Wenigstens erhalten sie  in Cafés und Pubs umsonst heißes Wasser. Die wilde Naturlandschaft die sie durchwandern, entschädigt die beiden immer wieder für die Strapazen. Dabei sind es nicht nur die körperlichen Anstrengungen, die sie an ihre Grenzen bringen sondern auch falsch getroffene Entscheidungen wie die, als sie leichtsinnigerweise nicht genügend Wasser dabei haben. Dehydriert, verschwitzt und obdachlos zu sein mit Moths tödlich verlaufender Krankheit im Kopf, macht ihnen die Realität häufig schmerzhaft bewusst. Doch es gibt auf ihrem Reiseweg immer wieder glückliche Momente, beispielsweise, wenn Moth plötzlich scheinbar mühelos ohne Schmerzen ist.

Mit dem Pfad, der sie nicht nur Kilometer um Kilometer weiter führt sondern gleichsam die Kräfte der wilden Natur mit ihren Steilwänden, Klippen und dem tosendem Meer hautnah erleben lässt, wird ihre Wahrnehmungsebene eine andere: „Unsere Welt veränderte sich, die Ränder lösten sich auf, unsere Reise versetzte uns zwischen Meer, Himmel und Felsen.“ (eBook S. 164). Die moderne Zivilisation ist nicht mehr Raynor und Moths Welt. In der Natur ganz auf sich allein gestellt, zählt für sie nur noch der Zustand des reinen Existierens und auch Überlebens. Und immer wieder rappeln die beiden sich mit einem unbändigen Willen auf, um ihren Weg weiterzugehen.

Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass die Obdachlosigkeit ihnen zwar alles Materielle genommen, dafür aber unbezahlbare wilde, freie Monate auf dem Coast Path beschert hat.

Der Salzpfad ist ein literarischer Reisebericht, der vom Nachrichtenmagazin The Times als inspirierendstes Buch des Jahres bezeichnet wird. Die Wanderung auf diesem Küstenpfad wird hier in einer ganz anderen Form beschrieben, als man sie aus sonstigen Reiseführern mit ihrem Focus auf Kultur, Übernachtungsmöglichkeiten oder Restaurantempfehlungen kennt. Die  Außenseiterposition der beiden Wanderer intensiviert ihren Bezug zur Naturlandschaft und verändert ihre Sicht auf die Menschen, die ihnen auf ihrem Weg begegnen. Immer wieder zu spüren, nicht mehr Teil einer funktionierenden Gesellschaft zu sein sondern als obdachlos erkannt und nicht gleichwertig angesehen zu werden, schmerzt.

So ist Der Salzpfad mit Raynor Winns Augen ein außergewöhnlicher Reisebericht, der von vielen empathischen Momenten lebt.

Die Übersetzung ins Deutsche stammt von Christa Prummer-Lehmair und Heide Horn.

Raynor Winn: Der Salzpfad.
DuMont Reiseverlag, Juli 2020.
336 Seiten, Taschenbuch, 14,99 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.

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Ein Kommentar zu “Raynor Winn: Der Salzpfad

  1. Hallo,

    tolle Rezension, sehr interessant!

    Würde ich mich das trauen? Mich praktisch ohne Seil und doppelten Boden in ein obdachloses Leben zu stürzen und mich dabei vollends auf die Natur einzulassen? Ehrlich gesagt glaube ich, dass ich das nicht könnte… Aber ich bewundere die Traute dieses Ehepaars!

    LG,
    Mikka

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