Raffaela Romagnolo: Bella Ciao

Er wurde zum Sommerhit 2018 gekürt. Doch während in den Clubs zu der elektronisch aufgepeppten Version von „Bella Ciao“ ausgelassen getanzt wurde, wusste kaum jemand um den ernsten Ursprung dieses Liedes. Bereits im 19. Jahrhundert galt es in Italien als Arbeiter- und Protestlied, wurde später zur Hymne der Partisanen im Kampf gegen die Faschisten. Um Widerstandskämpfer, (Familien-) Zusammenhalt und den Überlebenskampf im italienischen Piemont von 1900 bis 1946 dreht sich dieser mitreißende Pageturner von Raffaella Romagnolo. Die Autorin schafft es, Historie menschlich, politisch, sinnlich und sehr bewegend zu vermitteln. Ihre Geschichte um Entwurzelung, sozialer Ungerechtigkeit und Schicksal ist universell – bietet aber vor allem Italienliebhabern einen großen Mehrwert. Grandi emozioni, die lebensklug verpackt sind, fesseln von der ersten bis zur letzten Seite.

Borgo di Dentro im Jahr 1946: Das Land ist im Aufbruch, ächzt aber unter den Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges. Das Essen ist rationiert, die Straßen zerbombt, die Toten noch nicht gänzlich betrauert. Mittendrin spaziert eine wohlhabende Amerikanerin mit Seidenstümpfen, elegantem Cape und Hut. Was niemand ahnt: Es handelt sich um die 65-jährige Giulia Masca, die vor 45 Jahren diesen Ort während einer Nacht- und Nebelaktion verlassen hat. Nun möchte sie offene Rechnungen begleichen … oder sich nur mit ihrer Vergangenheit aussöhnen?

In einem ständigen Wechsel aus Rückblenden erfahren wir Leser den Grund, warum die damals zwanzigjährige Giulia ihr Heimatdorf so plötzlich verlassen hat. Kurz vor ihrer Hochzeit, mitten während eines Streiks der ArbeiterInnen einer Seidenfabrik, sieht sich Giulia einem doppelten Verrat ausgesetzt. Ihre bestes Freundin Anita und ihr Verlobter Pietro beginnen eine Affäre, gleichzeitig knicken Anita, ihre Mutter Assunta und weitere Arbeitskolleginnen ein und wollen den Streik brechen. Giulia ist zutiefst verletzt. Gleichzeitig wird ihr klar, dass es für sie in Borgo di Dentro kein Entrinnen aus der Armut gibt. Adel und Unternehmer sitzen am längeren Hebel, Bauern und Arbeiter fristen ein kärgliches Dasein, ohne Hoffnung auf Verbesserung.

So wandert Giulia nach New York aus. Damit trennen sich die Lebensfäden der einstmals besten Freundinnen – ihr Werdegang könnte unterschiedlicher nicht sein. Während sich Giulia mit ihrem Ehemann Libero und Sohn Michael eine gesicherte Existenz als Besitzerin einer Ladenkette aufbaut, muss Anita im Piemont zwei Weltkriege, Hunger- und Naturkatastrophen sowie dem Terror der Faschisten trotzen. Giulia bringt es durch den amerikanischen Kapitalismus zu Wohlstand, Anitas Familie unterstützt die Kommunisten und Partisanen. Dennoch fühlt sich Giulia auch in der neuen Heimat nie so ganz verwurzelt. Borgo di Dentro lässt sie nicht los, mit allem was ungesagt blieb.

Raffaela Romagnolo ist eine begnadete Autorin, wenn es darum geht, den Leser ganz nah an die Menschen mitsamt ihren dazugehörigen Milieus heranzuführen. Das historische Städtchen Borgo di Dentro, welches der realen Stadt Ovada nachempfunden wurde, erwacht vor unseren Augen zum Leben. Die Autorin zeigt die einstigen Lebensumstände, die hinter den wildromantischen Fassaden, die heute von Touristen bestaunt werden, verborgen bleiben. Da ist eine Suppe, bestehend aus drei Zwiebeln, einer Rübe und einer Handvoll Kohlblätter, die mit Wasser, Salz und Essig gestreckt wird. Sie muss für eine Woche reichen. Giulias Mutter nennt sie „Suez“. Denn nach der Einweihung des berühmten ägyptischen Kanals wird der europäische Markt von chinesischer Seide überflutet und ihre Mutter verliert ihren Arbeitsplatz in der Seidenspinnerei. Da ist die harte Arbeit auf dem Feld, die ewig hungrigen Kinder, die mit Frostbeulen an den Füßen umherlaufen, weil das Geld nicht für Schuhe reicht. Doch inmitten dieser Lebensumstände gedeiht die Liebe, die Lust, der Humor, der Kampfgeist. Trost, Hoffnung und Menschlichkeit schimmern bei Romagnolo auch in den dramatischten Momenten hindurch.

Ebenso ist Romagnolo eine Meisterin darin, ungewöhnliche Erzählperspektiven einzunehmen. Ganze Passagen schreibt sie zum Beispiel aus Sicht der Familienhündin Nuxe. Diese ordnet jedem Menschen einen Geruch zu, der ihn mehr charakterisiert, als dies eine übliche Beschreibung könnte. Dafür verwendet sie bezaubernde Vergleiche. Als Nuxe beobachtet, wie sich der sechszehnjährige Enkel ihres Herrchens zum ersten Mal zu einem Mädchen hingezogen fühlt, beschreibt sie den Duft, der zwischen den Verliebten ausströmt, mit „Butter, Zucker, Klee, Kanariengelb.“

Ob die Exil-Italiener in Amerika, ein verarmter Marchese und seine emanzipierte Tochter, eine stolze Bauersfamilie, Sieger und Unterlegene, Mitläufer und Widerständler, Teenager und Greise – als Leser sind wir mittendrin in all den Gefühlswelten. Am Ende handelt Romagnolo die großen Fragen ab: Liebe, Verrat, Versöhnung, Heilung, Neubeginn. Im Nachwort des Buches erläutert die Autorin, auf welchen realen geschichtlichen Begebenheiten ihr Plot fußt.

Fazit: Mitreißende Prosa mit ungewöhnlichen Erzählperspektiven, sprachlich lebendig erzählt.

Wer italienische Geschichte sehen, fühlen, riechen und schmecken möchte, wer beim Lesen berührt werden will – mit einem lachenden und weinenden Auge – ist mit diesem Roman bestens beraten. Die Schönheit ist, ebenso die Hoffnung, nicht totzukriegen. Wie in dem Liedtext von Bella Ciao: „Begrabe mich dort oben, im Schatten einer schönen Blume… Und all jene, die vorbeikommen, werden zu mir sagen: Was für eine schöne Blume!“

Raffaela Romagnolo: Bella Ciao.
Diogenes, September 2020.
528 Seiten, Taschenbuch, 13,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

Teilen Sie den Beitrag mit Ihren Freunden und Kontakten:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.