Philipp Moog: Anderwelt

Helmuth Bethmann, von fast allen, selbst von seinen Enkeln T.H. genannt, liegt im Sterben – die Lunge ist vom Krebs zerfressen, Metastasen breiten sich in seinem Körper aus. Während er im Krankenhaus auf den Tod wartet, erinnert er sich an seine Jugend in der NS-Zeit. Besonders eine bisher totgeschwiegene Episode verfolgt ihn im wachen Zustand und im Traum. Er möchte sie erzählen. Am liebsten Marco, seinem Lieblingssohn. Doch Marco entzieht sich. Hat keine Zeit, ist in seinem Beruf als Fotograf und mit diversen Frauenbekanntschaften anderweitig beschäftigt.

Dafür ist Justus da, der zuverlässige älteste Sohn – erfolgreicher Arzt, Pflanzenkenner und -liebhaber. Dass auch bei ihm nicht alles rund läuft, wird schnell klar. Justus hasst Vieles, was in seinem Leben einen festen Platz hat: Tennis spielen, neben anderen Männern in Urinale pinkeln und den Hund seiner frisch verliebten Teenie-Tochter Katja (der die Abneigung erwidert). Er kämpft mit seinem hohen Blutdruck und seinem Tinnitus. Entspannung findet er nur in seinem Garten. Er macht sich nicht nur um seinen Vater Sorgen, sondern auch um seine Mutter Amelie, die immer mehr vergisst. Manchmal sogar, dass ihr Mann wohl nicht mehr heimkommen wird.

Auch Neele, die Schwester von Justus und Marco, kümmert sich um T.H. Doch noch mehr hat sie mit sich, ihrem Mann und ihren Kindern zu tun. Ihre Ehe steckt in einer Krise, die sie mit ungewöhnlichen Mitteln zu beheben versucht.

Und dann ist da noch Zäzilie, T.H.s etwas exzentrische Schwester, die anreist, um sich von ihm zu verabschieden. Ohne ihren Sohn Beni, der seinem Onkel seit einem Streit aus dem Weg geht.

In seinem Roman „Anderwelt“ gibt der Autor Philipp Moog – den sicher einige auch als Schauspieler kennen – seinen Figuren eindrucksvolle eigene Stimmen. Jede darf von sich erzählen, gibt einen Einblick in ihr Denken und Fühlen. Die Leser*innen werden nach und nach in ihre Geheimnisse eingeweiht und kommen ihnen damit so nahe, dass sie ihre Schmerzen, aber auch die vereinzelten Glücksmomente spüren können. Niemandem in der Familie geht es wirklich gut. Jede*r hat etwas Belastendes zu verbergen – vor den anderen, aber manchmal auch vor sich selbst. Ab und zu brechen sich scheinbar unmotivierte Emotionen ihre Bahn in die Außenwelt, kommt Verdrängtes und Verstecktes zum Vorschein. Meist wird schnell wieder das Mäntelchen des Schweigens darüber gehängt, doch hin und wieder scheint die Hoffnung durch, dass sich etwas verändert, dass die anderen einen auch ohne Worte verstehen. Wie so oft im wirklichen Leben, haben die Familienmitglieder nur wenig gemeinsam, doch irgendwie fühlen sie sich auch verbunden. Justus wundert sich auf Seite 270: „[ … ], wie sich Geschwister so diametral entgegengesetzt voneinander entwickeln können.“

Familien wie die Bethmanns gibt es viele. Sie sind nichts Besonderes, aber es gibt für mich nur wenig, was interessanter ist als „ganz normale Menschen“, die ein Spiegel unserer Gesellschaft sind. Wie Philipp Moog die Individuen lebendig werden lässt, hat mich gefangengenommen und berührt. Er schaut ganz genau hin, wirft einen Blick hinter die Fassaden, deckt auf, ohne bloßzustellen.

Das i-Tüpfelchen bei diesem Roman ist für mich – wie so oft beim Verlag Karl Rauch – die wunderschöne Gestaltung des Umschlags.

„Anderwelt“ ist eine wundervoll und spannend erzählte Familiengeschichte, die ich nur wärmstens empfehlen kann.

Philipp Moog: Anderwelt.
Karl Rauch Verlag, August 2021.
320 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.

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