Peter Handke: Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere

Der in diesem Dezember 75 Jahre alt gewordene „Poltergeist“ der zeitgenössischen, deutschsprachigen Literatur, der Österreicher Peter Handke, ist ein besonderer Erzähler. Als Lesende mag man seine Texte oder nicht. Dem Autoren scheint dies Einerlei zu sein, er schreibt, wie er schreibt oder besser gesagt, er erzählt, wie er erzählt. Das gilt auch für sein neuestes Werk „Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere“, das am 13. November 2017 im Suhrkamp Verlag erschienen ist.

Darin bricht ein scheinbar älterer Ich-Erzähler nach dem „ersten und oft einzigen jährlichen Bienenstich“ im August von seinem Haus in einer Vorstadt bei Paris (in der Niemandsbucht) auf zu einer „Fahrt ins Landesinnere“ in die Picardie. Er folgt dabei einer sehr jungen Frau, der Obstdiebin Alexia, die auf der Suche nach ihrer Mutter (der Bankfrau) ist. Der Ausstieg  des Ich-Erzählers aus dem Vorortzug, in dem er meinte, die Obstdiebin entdeckt zu haben, an der Haltestelle des Dorfes Lavilletertre markiert auch seinen Ausstieg aus der Geschichte. Von nun an steht Alexia selbst im Mittelpunkt. Die Obstdiebin ist gerade von einer Russland-Reise nach Paris zurückgekehrt und macht sich auf ihre „Ein-Frau-Expedition“ in die Picardie, um ihre (vermeintlich) verschwundene Mutter zu finden. Dabei „streunt und stromert“ sie durch die Landschaft, trifft auf Tiere, Menschen, Dörfer, Felder, Wiesen, Auen und Flüsse. Sie übernachtet in einem Trauerhaus oder einer fast verlassenen Herberge. Kurze Zeit begleitet sie ein junger Mann, ein Pizzabote, vom Erzähler Valter genannt. Am Ende der „Einfachen Fahrt ins Landesinnere“ gibt es ein Familientreffen. Vater, Mutter, Bruder und Schwester Obstdiebin feiern ein Fest auf dem Vexin-Plateau in der Picardie.

Die Geschichte der Obstdiebin entwickelt sich langsam, eine Zeit lang,  Episode für Episode, Begegnung für Begegnung. Das Ereignislose wird zum Ereignis. Gespickt mit zahlreichen Anspielungen auf eigene frühere Werke und die anderer, wie z.B. Wolfram von Eschenbach, macht Handke das, was er so meisterlich beherrscht. Die feine Beobachtung wird haarklein, wortreich oder sollte ich besser sagen wortgewaltig in Szene gesetzt. So braucht der Ich-Erzähler, von seinem Entschluss aufzubrechen bis zum Einsteigen in den Zug nach Paris rund 90 Buchseiten. Unter „Beschreibungsimpotenz“ (die er einst seinen schriftstellernden Kollegen vorwarf) leidet Peter Handke nicht. Bei ihm wird ein Detail zum Hauptgegenstand des Erzählens: „…In der Sonne, die schräg und aus einiger Distanz hineinschien in die Auensenke, leuchtete das Federkleid dieses Fasans, indem er daherflog, golden, und hätte ohne die Sonne womöglich noch goldener gestrahlt. Der Goldfasan da war von niemand aufgescheucht worden und ließ seinem Flug, einem langlangen, zwischen den Erlen, Ahorn, dazu, hier höher im Flußtal, auch Buchen, keinerlei Schrei oder Laut hören. Der Goldfasan flog, so groß, wie er ihr erschien, mindestens doppelt so groß wie die ihr bekannten Fasanenvögel, lautlos…“ (Seite 293)

Als Lesende frage ich mich nicht selten: ist das jetzt gute Literatur oder einfach nur skurril?

Oder Handkes kurz aufleuchtende Wutausbrüche und seine Misanthropie: „Weg mit all euch Verschleierten und Vermummten, um Gottes Willen.“ (Seite 104)

„Und wieder war ich nah dran, den Mund aufzutun und ihr ins Gesicht zu schreien, was ich dachte: »Bilde dir nicht ein, daß ich etwas von dir will. Kein Mann, niemand erträumt sich mehr etwas vor euren Larven. Und wenn: Weh über die armen Männer, die in eure Fänge geraten, ihr falschen Hoheiten. Platterdings, wie ihr Maskenweiber auf eurem Kriegspfad seid, werdet ihr sie plattmachen. Ihr seid auf dem falschen Weg – auf gar keinem…«“ (Seite 106)

Und trotzdem lese ich jede der 560 Seiten, wenngleich mit großen Pausen zwischendurch. An einem (Lese-) Stück jedenfalls ist dieser Handke nicht zu ertragen. Und als ob er es ahnte, hat Handke seine Geschichte von der Obstdiebin portioniert, in kurze Absätze gegliedert, wenngleich man Kapitel oder Überschriften vergeblich sucht. Lediglich auf der Umschlaginnenseite findet der Lesende eine Übersicht über die Stationen dieser „Fahrt“.

Peter Handkes „Die Obstdiebin“ ist (vielleicht) eine Geschichte über eine Familie: eine abwesende Mutter, einen besserwisserisch schwadronierenden Vater und geflüchtete Kinder. Und wenn diese Geschichte für mich als Lesende ein Thema hat, dann ist das die grenzenlose, freiwillige oder unfreiwillige Einsamkeit der Handke-Figuren in der Welt.

Peter Handke: Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere.
Suhrkamp, November 2017.
559 Seiten, Gebundene Ausgabe, 34,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.

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