Peter Grandl: Turmschatten

Der Neonazi Karl Rieger wurde wegen Erpressung und schwerer Körperverletzung zu drei Jahren Haft verurteilt. Doch schon nach fünfzehn Monaten kommt er wieder auf Bewährung frei. Inzwischen hat sich an seiner Einstellung mehr geändert, als er für möglich hält: Er liebt eine Jüdin. Und da ist noch sein 13-jähriger Schützling Thomas, der wie Karl ungewollt in die rechtsradikale Szene reingerutscht ist und nun dringend Hilfe braucht, um sein Leben noch rechtzeitig in den Griff zu bekommen.

Karls erste Schritte in Freiheit verlaufen jedoch völlig anders als geplant. Dies liegt nicht nur an dem eskalierten Erstgespräch mit seiner Bewährungshelferin, die ihn beim kleinsten Regelverstoß ins Gefängnis zurückschicken will. Kurz darauf erfährt er von seinen Kameraden, zu denen er offiziell keinen Kontakt mehr haben darf, dass für einen Überfall Thomas die Rolle des Lockvogels übertragen wurde. Karl glaubt, nur wenn er sich an der Operation beteiligt, könne er den Jungen beschützen und das Schlimmste verhindern. Doch auch diese Aktion eskaliert und entwickelt sich zu einem medialen Großereignis mit Folgen.

Wer als Regisseur gearbeitet hat und heute als Texter und Drehbuchautor tätig ist, dem darf man blind Können und Handwerk unterstellen. In seinem Debüt zeigt Peter Grandl all dies und noch viel mehr. Was an seinem in jeder Hinsicht gelungenen Thriller auffällt, ist die Kombination von Desastern. Eine nicht enden wollende Kette von unerwarteten Wendungen vergrößert bei allen Beteiligten konsequent ein Chaos, das mit normalen Hilfsmitteln nicht mehr zu beruhigen ist. Erst wenn alle an ihre Grenzen und darüber hinaus gelangt sind und eine Auflösung erkennbar wird, überrascht der Autor wiederum mit einigen Wendungen.

Im Zentrum des Thrillers steht ein für Wohnzwecke umgebauter Turm, der aufgrund seiner besonderen Entstehungsgeschichte zum Schauplatz gegensätzlicher Ideologien wird. Auf der einen Seite stehen Vertreter einer rechtsradikalen Gesinnung und auf der anderen ein alter, möglicherweise schwer erkrankter Jude, der für sein erlittenes Unrecht einen perfiden Rachefeldzug in Gang setzt. Das Spiel „Wer ist Opfer und wer Täter“ entpuppt sich für diejenigen als Wechselspiel der Gefühle, die unvoreingenommen das Offensichtliche für wahr halten.

Im Schatten des Turmes türmen sich Sensationsgier, Hass, Rache und Mutmaßungen so hoch auf, dass am Ende nur ein Einsturz möglich ist. Aus all diesen Gründen hat Peter Grandl das Spiel mit der Wahrheit meisterhaft inszeniert.

Und am Schluss fühlt man sich nach der spannenden Lesereise von der Wucht einer ständig fortschreitenden Katastrophe wie erschlagen. Wie alle Beteiligten wird auch der Leser von einem dynamischen Prozess mitgerissen. Irgendwann ist der Tsunami aus Missgeschicken und Dramen vorbeigezogen und hat hoffentlich viele mit neu gewonnenen Einsichten ein wenig verändert.

Peter Grandl: Turmschatten.
Das Neue Berlin, Februar 2020.
592 Seiten, Gebundene Ausgabe, 25,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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2 Kommentare zu “Peter Grandl: Turmschatten

  1. Liebe Renate Müller,
    Ihre Besprechung hat mich sehr bewegt. Vielen Dank für diese umfassende Rezension und die lobenden Worte. Eigentlich kann ich es immer noch nicht fassen, dass TURMSCHATTEN nicht nur gelesen wird, sondern vor allem auch ein weibliches Publikum gefunden hat, nachdem mir 5 Jahre lang Verlage erklärt hatten, dass der Stoff ungeeignet sei für eine Veröffentlichung. Ich habe in all den Jahren des Schreibens und der Recherche immer wieder kurz davor gestanden, den Roman nicht zu vollenden. Als ich heute Ihre Zeilen gelesen habe, fühlte sich das an, wie die Belohnung für all meine Mühen.
    Beste Grüße,
    Ihr Peter Grandl

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