Peter-André Alt: ‚Jemand musste Josef K. verleumdet haben …‘: Erste Sätze der Weltliteratur und was sie uns verraten

„Am Beginn jeder Erzählung steht ein Verführungsversuch.“ (S. 10) Wie wahr dieser erste Satz des Buchs von Peter-André Alt ist. Denn was ist es, das uns dazu verführt, ein Buch zu kaufen? Das Cover, der Titel und? Genau, der erste Satz. Wenn er uns nicht überzeugt, nicht verführt, wenn er uns nicht hineinzieht in das Buch, dann hat es schon verloren und wir lassen es in der Buchhandlung zurück.

Peter-André Alt ist Literaturwissenschaftler an der Freien Universität Berlin und Präsident der Hochschulrektorenkonferenz. Er hat u.a. Bücher über Schiller, Kafka oder Freud veröffentlicht. Und nun schreibt er über erste Sätze der Weltliteratur. Er zitiert fast 250 erste Sätze, von Homer über Goethe, Poe, Twain, Grass, bis Patrick Süßkind, Michel Houellebecq, Paula Hawkins. Er analysiert, wie sich die ersten Sätze über die Jahrhunderte verändert haben, was damals und was heute ihre Absicht, ihre Intention ist.

Und danach ist sein Buch gegliedert. Nach dem, was die ersten Sätze sagten und sagen. Darin spiegelt sich auch immer die jeweilige Art der Rezeption von Literatur, von Romanen wider. So tarnen sich im frühen 18. Jahrhundert die Autoren bzw. die Erzähler gerne als fiktive Herausgeber: „Romanlektüre ist des Teufels, weil sie zu erotischen Phantasien verführt, die Einbildungskraft anheizt und von den Aufgaben des Tages ebenso wie von den Pflichten der Vernunft ablenkt. …. Aus diesem Grund greifen viele Autoren der Zeit zu einer schon in der Antike vertrauten Strategie, indem sie ihre Erzähler zu Herausgebern mutieren lassen. Diese behaupten, sie hätten das Manuskript mit der nachfolgend gebotenen Geschichte nur zufällig gefunden ….“ (S. 50-51).

Im ersten Satz eines Romans kann aber auch schon die Person des Protagonisten mit wenigen Worten eingeführt werden, so prägnant, dass der Leser zu diesem Zeitpunkt bereits ein bestimmtes Bild, eine feste Vorstellung der Figur erhält. Beispiele dafür finden sich bei Dostojewski in den Brüdern Karamasow oder bei Döblin in Berlin Alexanderplatz. Andere Schriftsteller anderer Zeiten führten dem Leser im ersten Satz den genauen Ort der Handlung vor Augen, so Victor Hugo in Der Glöckner von Notre Dame. Oder sie erzeugen schon im allerersten Satz eine solche Spannung, dass der Leser danach das Buch nicht mehr aus der Hand legen kann.

Das Buch von Peter-André Alt führt viele bekannte, oft zitierte erste Sätze als Beispiele an, aber auch auf die weniger berühmten lenkt er unsere Aufmerksamkeit. Es geht ihm um die Bedeutung des ersten Satzes, um die Wichtigkeit und das, was ein erster Satz verspricht. „Der erste Satz kann die Wahrheit sagen oder sie verschleiern, er kann eine Offenbarung oder eine Lüge aussprechen.“ (S. 72)

Mich hat dieses Buch fasziniert. Ich werde keinen Roman mehr zur Hand nehmen können, ohne mir die Wirkung des ersten Satzes bewusst zu machen. Und natürlich bietet dieses Buch auch heutigen Autor*innen reichlich Lehrstoff.

Kein leichter Lesegenuss, für Literaturbegeisterte aber ein Lesemuss.

Peter-André Alt: ‚Jemand musste Josef K. verleumdet haben …‘: Erste Sätze der Weltliteratur und was sie uns verraten.
C.H. Beck, Februar 2020.
262 Seiten, Gebundene Ausgabe, 26,95 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.

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