Patrícia Melo: Gestapelte Frauen

„… Carla war tot. Rita war tot. Meine Mutter war tot. Um mich herum stapelten sich die toten Frauen. All die Namen, die ich in meinem Heft notiert hatte. All die vergeudeten Leben.“ (S. 207)

Die junge Anwältin und Ich-Erzählerin könnte in São Paulo Karriere machen, doch ihr Engagement gilt den Frauen, die gewaltsam gestorben sind. Es sind viel zu viele Fälle, in denen die Täter straffrei ausgehen. Sie kennt die Choreographie der Gewalt zu genau. Zuerst kommen harte Worte und Beleidigungen, dann Handgreiflichkeiten, die bis zum Mord ausufern.

Kurz bevor sie sich nach Acre schicken läßt, einem Ort im Amazonasgebiet, bekannt für Kautschukgewinnung, Drogenhandel und der landesweit höchsten Sterberate für Frauen, erlebt sie ein ähnliches Muster für Bedrohung bei ihrem Freund. Seine grundlose Eifersucht, eine Ohrfeige und Beschimpfungen wollen zu ihrem Traummann so gar nicht passen. Der Auftrag, Daten für ein Buch über Gerichtsfälle zu sammeln, schenkt ihr die nötige Distanz. Sie fühlt sich wieder sicher, bis sie einem etablierten System der Gewalt gegenübersteht. Der brutale Mord einer 14-jährigen Ureinwohnerin durch drei junge weiße Männer aus der oberen Gesellschaftsschicht zeigt der Erzählerin, wie Justiz, Strafverfolgung und Presse für die Freilassung und den guten Ruf der Angeklagten sorgen.

Der Kontakt zu der Familie des Opfers führt die Erzählerin in den Urwald, und sie begreift, dass viel mehr auf dem Spiel steht als die Rechte der Opfer. Sie muss sich erinnern, Verdrängtes aus ihrer Kindheit zerren, um den Tod ihrer Mutter zu verarbeiten.

Patrícia Melo wartet in ihrem Roman mit harter Kost auf. Es ist eine Sicht, die das alltägliche Unrecht gegenüber den Frauen ihres Landes in den schwärzesten Farben malt.

„ […] ich fühlte mich sicher in der Stadt. Vielleicht, weil ich sie noch nicht genügend kannte. Oder weil man, wenn man in die Welt der Frauenmorde eintaucht, als erstes lernt, dass dunkle Straßen, einsame Gassen und dubiose Stadtteile nicht die wirklich gefährlichen Orte für uns sind. Tatsächlich gibt es keinen riskanteren Platz für mich als unser eigenes Zuhause.“ (S. 59) Die Statistiken der Morde geben der Erzählerin Recht, denn die meisten Morde sind Beziehungstaten. „Das wahre Schafott der Frauen ist die Ehe.“ (S. 60)

Von einem Bekannten erfährt die Erzählerin, wie er zu einem mehrfachen Mörder wurde. Er wollte seine Rita vor bösen Männern beschützen. Deshalb überwachte er seine Ex-Freundin heimlich und suchte sie mit geladener Waffe auf. Natürlich kann Rita seine Art des Schutzes nicht gutheißen. Sie ist Staatsanwältin. Und genauso natürlich war sie in seinen Augen an ihrem Tod quasi selbst schuld; kein Mann könne Widerworte und Ablehnung hinnehmen. Die Frau, das Objekt der Begierde, wird in einer Beziehung automatisch zu einer Ware, die ein Mann besitzt, beschützt und nach Belieben bestraft. Diese Form des Patriarchats gibt es nicht nur in Brasilien; sie ist universell in einer schweigenden Gesellschaft.

Die Autorin, 1962 in São Paulo geboren, zählt zu den wichtigsten Stimmen der brasilianischen Gegenwartsliteratur. Die von ihr verarbeiteten Themen der Gewalt in brasilianischen Großstädten erhielten Preise und Aufmerksamkeit in der internationalen Presse. Barbara Mesquita übersetzte Patrícia Melos unverwechselbare Sprache, die sowohl direkt als auch poetisch grausame Ereignisse darzustellen weiß.

Patrícia Melo: Gestapelte Frauen.
Unionsverlag, Februar 2021.
256 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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