Julie Heiland: Schicksalsjahre: Die Frauen vom Neumarkt  

Zwei Frauen, zwei spannende Zeitpunkte in der jüngeren Geschichte, erzählt in zwei Zeitebenen. Ein gut geschriebener, emotionaler Roman, der zwei wichtige Abschnitte der jüngeren deutschen Geschichte durch die Geschichte dreier Frauen verbindet. Lotte, Hannah und später auch Marlene.
Erzählt wird in parallelen Strängen, zunächst nur aus der Sicht von Hannah und Lotte, später – allerdings erst gegen Ende des Romans– auch aus der Sicht von Marlene, Hannahs Mutter.

Hannah, eine junge Archäologin, arbeitet Anfang der 1990-er Jahre mit am Wiederaufbau der Dresdener Frauenkirche. Dabei findet sie ein Foto, auf dem eine junge Frau und ein junger Mann zu sehen sind, die sich anscheinend recht nahestehen. Das Foto ist für Hannah fast wie ein Schock. Die junge Frau hat eine verblüffende Ähnlichkeit mit ihrer Mutter. Könnte es ihre Großmutter sein, von der sie nichts weiß und zu der sie nie Kontakt hatte, weil ihre Mutter jede Verbindung schon vor Jahren gekappt hat? Das lässt Hannah nicht mehr los, sie beginnt nachzuforschen, wer die Frau auf dem Foto ist und wo sie jetzt wohl lebt. Und falls es wirklich ihre Großmutter ist, will sie endlich auch erfahren, warum sie keinen Kontakt zu ihrer Tochter und Enkelin hat.

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Nico Semsrott: Brüssel sehen und sterben

Rechtzeitig vor der Wahl im Juni 2024 erscheinen Nico Semsrotts Einblicke in die Machenschaften im Europäischen Parlament, dessen Verwaltungsapparat 8000 Menschen umfasst. Semsrott selbst ist „aus Versehen“ im EU-Parlament gelandet, wie er berichtet. Zusammen mit Martin Sonneborn wurde er von beinahe 900000 Personen für „Die Partei“ gewählt. Er betrachtete sein Antreten für die Satirepartei als Freiheit zum Experiment. Seit 2019 gehört Semsrott nun dem Europaparlament an und übt dort mit über 700 weiteren Abgeordneten den „merkwürdigsten Job der Welt“ in seinem Medien-bekannten Outfit, dem Kapuzenpullover, aus. Die Einblicke, die uns der Satiriker und Komiker gewährt, wären ganz lustig, wenn sie nicht tatsächlich wahr wären. Es geht nicht nur um unsinnige Steuerverschwendungen. Die Verstrickungen der Parlamentarier, die sich ihre Regeln selbst entwickeln, lassen nicht nur an der Ernsthaftigkeit dieser Institution zweifeln, sie sind auch schwer zu ertragen. Und das ist noch gelinde ausgedrückt. „Ertragen können muss man in diesem Beruf Dummheit, Ignoranz, Langeweile, Geld- und Lebenszeitverschwendung und krasse Ungerechtigkeiten.“ (S. 17)

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Tine Dreyer: Morden in der Menopause

Absurder, temporeicher und makabrer Spaß

Dieser Roman ist eher nichts für Männer. Ich kann mir weder vorstellen, dass sie mit der Protagonistin mitfühlen noch, dass sie über ihre Aktivitäten wirklich lachen können. Und lachen muss man bei dieser witzigen Geschichte immer wieder.

Erst ist es die Pubertät und später dann die Wechseljahre, die Frauen ertragen und überstehen müssen. Ohne dass sie dem entkommen oder dass sie Verständnis oder Rücksicht erfahren, wenn sie in dem jeweiligen Zustand sind. Besonders krass wird es dann, wenn beides zusammentrifft in Form von pubertierenden Kindern, während die Mutter mit Hitzewallungen, Schlaflosigkeit und Stimmungsschwankungen zu kämpfen hat.

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Lilly Bernstein: Sturmmädchen

Die Freundinnen Elli, Margot und Käthe schwören sich am Perlbach, eine für alle, alle für eine. Doch im Laufe der nächsten Jahre verändert sich ihr Leben. Aus den Schulmädchen sind junge Frauen geworden, die ihren Platz noch finden müssen. Während Elli mit ihrer Mutter in einer kleinen Kate auf dem Hof des reichsten Bauern der Umgebung lebt, muss Käthe in der Fabrik arbeiten und ihren Eltern dabei helfen, ihre notleidende Familie durchzubringen. Nur bei Margot scheint es gut zu laufen. Sie heiratet und will mit ihrem Mann den florierenden Familienbetrieb in Aachen weiterführen.

Die eigentliche Geschichte der drei jungen Frauen beginnt im Oktober 1938 und endet im Mai 1940. Es ist eine Zeit, in der die Nationalsozialisten mit brachialen Methoden das gesellschaftliche Miteinander auch in der verarmten Eifel nach ihren Regeln festlegen. Elli ist schockiert, als eine geistig behinderte Frau aus ihrem Dorf abgeholt wird und nach dem „Hitlerschnitt“, der zwangsweisen Sterilisation, stirbt. Diese Umstände passen nicht zu ihrem Menschenbild. Auch Margot und ihre Eltern erleben Sanktionen, weil sie Juden sind. Als Elli endlich das Ausmaß der Gefahren erkennt, dem ihre inzwischen schwangere Freundin und deren Eltern ausgesetzt sind, riskiert sie für eine Rettungsaktion ihr eigenes Leben, das ihrer Mutter und der heimlichen Helfer.

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Martin Becker: Die Arbeiter

Der deutsche Autor Martin Becker (Jahrgang 1982) hat ein autofiktionales Buch mit dem Titel „Die Arbeiter“ geschrieben. Der Luchterhand Literatur Verlag veröffentlichte es am 13. März 2024 in seinem Frühjahrsprogramm.

Tag für Tag Maloche und einmal im Jahr Nordsee

In „Die Arbeiter“ erzählt Martin Becker die Geschichte einer Familie, die vom Ruhrgebiet in eine sauerländische Kleinstadt gezogen ist und in einem mit Krediten finanzierten Reihenhaus lebt. Der Vater arbeitet im Bergbau, die Mutter verdient sich als Näherin ein Zubrot. Sie haben vier Kinder. Eins davon, Lisbeth, die Älteste, ist adoptiert und sitzt im Rollstuhl. Dann sind da noch Kristof und Uta. Und der Ich-Erzähler Martinus, der „Kurze“ und das jüngste Kind in der Familie.

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Sibylle Baillon: Wie Spuren am See – Die Rückkehr

Erster Eindruck
Etwas neidisch las ich dieses Buch, nachdem ich schon beim ersten Kapitel erkannte, dass ich mir als Autor von Krimis und Fantasyromanen Baillons Vielfalt an bildhaften Vergleichen und die Dichte ihrer Gefühlsbeschreibungen in meinen Genres nicht erlauben darf. „Die Rückkehr“ ist das zweite Buch aus der Bodensee-Reihe, das ich – mit zeitlichem Abstand zum ersten – genossen habe. Wieder beeindruckten mich der einfühlsame Schreibstil, der mich ins Setting hineinzog, und die Dramatik, die hier schon anfangs zutage tritt und die sich später verdichtet. Es ist eine andere Spannung als in Kriminalromanen – in diesem Werk zwingen Mitgefühl und Neugier zum Weiterlesen, außerdem einfach die Freude am Ausdruck und an der Detailverliebtheit, mit denen uns die Autorin begegnet.

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Brian McClellan: Im Schatten des Blitzes

Nach den beiden Powder-Mage Trilogien, mit denen Brian McClellan sich auch bei uns eine begeisterte Fangemeinde zulegen konnte, präsentiert sein Hausverlag Cross Cult, den Beginn einer neuen Reihe.

The Glass Immortals greift dabei erfolgreiche und erprobte Themen und Motive seiner beiden o. e. Serien auf, nimmt diese aber nur als Blaupause für eine neue, andere Welt mit ihrer erneut ganz eigenen, nie zuvor gelesenen Magie.

Wieder stellt der Verfasser eine kleine Gruppe von handlungsrelevanten Figuren in das Zentrum seines Plots. Und wieder gibt es eigentlich keinen einzelnen Antagonisten, sondern es geht mehr darum, aus den Vorkommnissen schlau zu werden, zu begreifen, was eigentlich, am besten noch warum gerade dieses, momentan passiert.

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Ulf Kvensler: Der Ausflug: Nur einer kehrt zurück

Wahnsinnig atmosphärischer skandinavischer Thriller – ein Silberstreif am Horizont

„Dieser Bergwand war es egal, ob wir zu ihren Füßen überlebten oder starben wie ein sinnloses Opfer. Sie würde auch noch in ein paar Millionen Jahren hier stehen, stumm und unerschütterlich.“ (S.257)

Über 2.000 Meter hohe Gipfel, imposante Bergmassive, Gletschertäler, tiefe enge Schluchten, wilde Sturzbäche, sich schlängelnde Gewässerlandschaften… Schwedens größter Nationalpark Sarek ist eine majestätische alpine Landschaft, eingebettet in den schwedischen Teil Lapplands.

Inmitten dieser unberührten Natur – ohne markierte Wege, Hütten oder andere Annehmlichkeiten – wird jede Durchquerung des Sarek zu einer wahren Herausforderung.

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Margret Atwood & Douglas Preston (Hrsg.): Vierzehn Tage

Zwei Wochen während der Corona-Hochzeit in New York – erstaunlich fesselnd

Wer hätte gedacht, dass ein Roman, der zur Zeit der am heftigsten wütenden Coronapandemie in New York spielt, als täglich tausende Tote zu beklagen waren, so interessant, unterhaltsam, spannend und überraschend sein kann.

Wer hätte vor allem gedacht, dass man einen zu dieser Zeit spielenden Roman überhaupt lesen mag. Die dahinterstehende Idee ist es insbesondere, die Aufmerksamkeit auf dieses Buch zieht.

Die beiden Herausgebenden versammeln 36 namhafte und renommierte Autoren und Autorinnen Nordamerikas, die innerhalb einer von Douglas Preston verfassten Rahmenhandlung 36 einzelne, unabhängige Geschichten schreiben. Das Ergebnis ist faszinierend und vollauf gelungen.

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Marie Benedict: Das verborgene Genie

Ihre Entdeckungen zur DNA veränderten die Welt. Den Nobelpreis haben aber drei andere – allesamt Männer – einkassiert. Die Rede ist von der Biochemikerin Rosalind Franklin. Dieser Roman zeigt allzu deutlich, wie die Ideale der Wissenschaft durch Wettkampf, der Gier nach Geld und Ruhm verraten wurden. Wie Franklin systematisch als „alte Jungfer“ oder „hysterisches Weib“ diffamiert wurde, damit sich andere in den 1950er Jahren ihre Errungenschaften unter den Nagel reißen konnten. Und dass Frauen im Bereich der Wissenschaft zu allen Zeiten doppelt so gut sein mussten, um am Ende nicht einmal die Hälfte der Lorbeeren zu erhalten. Der Preis, den Rosalind Franklin für ihre Hingabe zur Forschung zahlte, war hoch. Schön, dass Marie Benedikts neuester Geniestreich über Frauen im Schatten der Weltgeschichte dieses verleumdete Genie wieder einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich macht. Für ihre Biografie nutzt sie nicht das Genre des Sachbuchs, sondern das der Belletristik, was Franklins Geschichte auf der menschlichen Ebene umso zugänglicher macht.

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