Monika Maron: Munin oder Chaos im Kopf

Was haben eine Krähe, der Dreißigjährige Krieg und eine Sängerin, die jeden Tag auf ihrem Balkon Arien schmettert miteinander zu tun? Zunächst nicht viel. Aber im Verlauf von Monika Marons neuestem Roman verknüpfen und verwirren sie sich mehr und mehr, bis die Protagonistin Mina Wolf nur noch Chaos im Kopf hat.

Die Journalistin Mina Wolf wohnt in einer kurzen, nur acht Häuser zählenden Straße in Berlin-Schönefeld. Für den Sommer hat sie den lukrativen Auftrag angenommen, für die Festschrift zum tausendjährigen Jubiläum einer westfälischen Kleinstadt einen Aufsatz über den Dreißigjährigen Krieg zu verfassen. Sie hat zwar bisher weder über Kriege noch über das 17. Jahrhundert geschrieben und kann sich nicht richtig erklären, wie die Stadt darauf gekommen ist, sie für diesen Aufsatz auszuwählen, aber das kümmert sie nicht weiter, denn: „Ich war nicht zum ersten Mal gezwungen, mir in wenigen Wochen ein hochgestapeltes Expertentum anlesen zu müssen um über ein Thema zu schreiben, von dem ich keine Ahnung hatte, jedenfalls nicht mehr als jeder andere oberflächlich gebildete Mensch.“

Und so liest sie sich durch einige Bücher, immer auf der Suche nach dem Faden oder Fädchen, das die Verbindung von damals zu heute bilden kann und einen modernen Nerv trifft. Doch das ist nicht einfach, denn tagsüber stört eine „verrückte“ Sängerin die gesamte Nachbarschaft und geht allen auf die Nerven. Von morgens bis abends steht sie auf ihrem Balkon, singt mehr laut als richtig und beschimpft alle, die sich beschweren. Eine Kündigung ist unmöglich, denn sie gilt rechtlich als „behindert“ und steht damit unter einem besonderen Schutz. An ihr entzünden und entzweien sich die Geister der Nachbarschaft. Es bilden sich Parteien, die sich bald im Kleinkrieg miteinander befinden. Ein Klima der Angst und des Misstrauens entsteht, aus dem sich Mina Wolf versucht herauszuhalten. Doch auch sie wird immer wieder von den verschiedenen Gruppierungen vereinnahmt und vor allem: Auch in ihr wächst die Furcht und die Voreingenommenheit.

Um in Ruhe schreiben zu können, dreht sie ihren Lebensrhythmus um, schreibt in der Nacht und schläft am Tag bei geschlossenen Fenstern und Türen. Und sie lernt eine einfüßige Krähe kennen, die sich Essensreste von ihrem Balkon stibitzt hat. Mina Wolf lockt die Krähe mit Fleischwurst und Hundefutter in ihre Wohnung und irgendwann beginnen sie miteinander zu reden, über den Krieg, die Menschen und ihre Fehler. Sie nennt die Krähe Munin – Erinnerung – wie einen der Raben Odins, die täglich über die Erde fliegen und ihrem Besitzer die Neuigkeiten zutragen.

Bei ihren Recherchen stößt Mina Wolf auf die Aufzeichnungen eines Söldners, der im Dreißigjährigen Krieg 24 Jahre lang kreuz und quer durch Europa gezogen ist. Mit ihm hat sie endlich ihren Anknüpfungspunkt gefunden: Die Grausamkeiten von damals sind auch heute noch nicht verschwunden. Munins Behauptung, dass Menschen nicht für den Frieden begabt sind, bewahrheitet sich für sie unter immer mehr Aspekten. Sie muss nur aus dem Fenster schauen, um den Unfrieden in ihrer kleinen Straße zu sehen, die repräsentativ für die Gesellschaft zu stehen scheint. Die Zeichen sind für sie deutlich: Wir leben in einer Vorkriegszeit.

Monika Maron hat mit „Munin oder Chaos im Kopf“ einen Roman geschrieben, an dem sich die Meinungen spalten. Auch ich habe ab und an zweifelnd den Kopf geschüttelt, wenn Mina Wolf sich über Flüchtlinge und Übergriffe junger Männer aus islamischen Ländern ausgelassen oder in ihrer pessimistischen Weltuntergangsstimmung gebadet hat, musste mich aber dann auch immer wieder daran erinnern, dass nicht die Autorin spricht, sondern eine Figur, die sie erschaffen hat. Wie viel Monika Maron in Mina Wolf steckt, war dann unwichtig und tat nichts zur Sache.

Zum Glück gibt es Munin, die sich für Gott hält und mit ihren klugen Fragen und philosophischen Überlegungen die Thesen von Mina Wolf relativiert (und irgendwie ja auch ein Teil von ihr selbst ist).

Zweifellos ist „Munin“ stilistisch hervorragend geschrieben und verwebt die verschiedenen Gedanken- und Zeitebenen auf feine Weise. Wie Monika Maron über die Entstehung der Ängste und ihre Auswirkungen erzählt, zeugt von ihrer Beobachtungsgabe und ihrer Fähigkeit zur Analyse unserer Gesellschaft und das alles inklusive einer Portion Augenzwinkern und Ironie.

Für mich gibt es keine eindeutig richtigen oder falschen Antworten auf die Ideen, Thesen und Fragen, die in diesem Buch aufgeworfen werden. Und vor allem gibt es darauf keine einfachen Antworten. Eindimensional ist in diesem Buch und auch im Leben nichts.

Deshalb: Wer es mag, kontrovers zu denken, nicht nur das Offensichtliche zu sehen, sondern tiefer zu graben und dabei moderne Literatur zu genießen, der sollte dieses Buch auf jeden Fall lesen.

Monika Maron: Munin oder Chaos im Kopf.
Fischer, Februar 2018.
224 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.

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